Das Andere der Vernunft? Die Geburt des Verschwörungsdenkens im Mittelalter SoSe 2025, Marcel Bubert
Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Verschwörungstheorien im engeren Sinne in den Gesellschaften des europäischen Mittelalters kaum zu erwarten sind. Vielmehr scheint es sich zunächst um ein modernes Phänomen zu handeln, das erst im Zuge der Aufklärung ermöglicht wurde. Gleichwohl finden sich verstärkt seit dem späten Mittelalter konspirationistische Deutungsmuster, die strukturelle Analogien zu modernen Verschwörungstheorien aufweisen. Ausgehend von dieser Beobachtung nimmt die Vorlesung die spezifischen Bedingungen in den Blick, die zur Formierung eines veränderten Konspirationsdiskurses im europäischen Spätmittelalter geführt haben. Diese werden in ihren ideen-, sozial- und mediengeschichtlichen Dimensionen betrachtet. In Verbindung mit einer Diversifizierung sozialer Gruppen und einem Prozess der Medialisierung ergaben sich neue Voraussetzungen für die Zuschreibung von Intentionalität, die Unterstellung von Heuchelei sowie die Vermutung verborgener Machenschaften hinter der äußeren Fassade sozialer Akteur*innen. Die „Geburt des Verschwörungsdenkens“ zielt folglich weniger darauf ab, den historischen Ursprung des Verschwörungsdenkens zu datieren; vielmehr geht es um eine Analyse der soziokulturellen Rahmenbedingungen, unter denen die Imagination von Konspirationsszenarien neuartige Formen annahm. Dabei wird die These vertreten, dass die Entstehung von Verschwörungstheorien in Europa mit der spezifischen Dialektik eines Modernisierungsprozesses verbunden ist, der im Mittelalter einsetzte.
- Lehrende/r: Marcel Bubert