„Ich liebe betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen” – so lässt Pascal Mercier in seinem Roman „Nachtzug nach Lissabon” den gerade 17jährigen Amadeo Prado sprechen – der in seiner Abiturrede zugleich zu erkennen gibt, wie sehr er mit der Bibel, dem Glauben und der Kirche ringt. Ein solches Bekenntnis lässt im 21. Jahrhundert durchaus aufhorchen. Gewiss, Beten ist ein menschlich-religiöses Urphänomen. Es wird in allen Religionen als sinnvoll angenommen und vorausgesetzt. „Oratio est propriae religionis actus” formuliert Thomas von Aquin. Aber es scheint, dass das Beten seit der Aufklärung seine natürliche „Biosphäre” verloren hat. Beten ist zwar auch in der Gegenwart eine Sehnsucht vieler Menschen: Wie viele Menschen etwa zünden in Kirchen eine Kerze an. Und doch ist es zumindest der westlichen Hemisphäre nichtselbstverständlich und fragwürdig geworden. Die philosophische Gebetskritik hat vor allem das dialogische Gebetsverständnis problematisiert. Wenn Beten als Zwiesprache mit Gott bezeichnet wird, setzt das nicht Gott als eine extramentale Referenz voraus, ein Du, ein Gegenüber, das „dialogfähig” ist, und das hören und antworten kann? Was biblisch-christlich so selbstverständlich postuliert wird, dürfte viele Menschen in der Postmoderne zumindest verlegen machen angesichts eines vorherrschenden „Etwas-ismus” (Lieven Boeve): Gott als etwas Größeres, etwas hinter den Dingen, als Horizont, Hintergrundrauschen … Und nachdem Kant es für geradezu „thöricht” hielt, dem „Gebete andere als natürliche Folgen beizulegen” und ihm allenfalls eine subjektive Rückwirkung zuschrieb, nämlich „Beruhigung und Aufrichtung des Gemüts”, stellt sich die Frage, wie man ein Gebet theologisch denken kann, das mehr ist als eine monologische Selbstverständigung, eine hilfreiche Autosuggestion oder ein Resilienzfaktor. Bleibt nur die kantische Konsequenz, der der Mensch, „der beim Beten ertappt wird, sich schäme” … weil er vor der eigenen Verantwortung flieht, das Beten als Albi für unterlassenes Tun „nutzt”, und Gott unziemlich beeinflussen und verzwecken will? So sehr spirituelle Erfahrung als ein „locus theologicus” anzusehen ist (so Simon Peng-Keller), lassen sich diese Anfragen an die Gebetsvollzüge doch nicht nur mit dem Rekurs auf persönliche spirituelle Erfahrungen beantworten. Christliche Theologie bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Autorität des Denkens und der Autorität geistlicher Erfahrung und dieses Spannungsfeld einseitig aufzulösen wäre für die Theologie zutiefst schädlich. Vor diesem Hintergrund versucht das Seminar, sich den zentralen Gebetsvollzügen wie dem Loben, Danken, Klagen, (Für-)Bitten und dem „Ausschütten des Herzens”, also dem betenden Erzählen theologisch so zu nähern, dass Menschen zum einen diese Vollzüge wagen können, ohne sich schämen zu müssen, und zum anderen entdecken können, dass Beten ihnen erlaubt, vor Gott ganz Mensch zu sein, mit allem, was zu ihnen gehört (so die Dogmatikerin Veronika Hoffmann).
- Lehrende/r: Michael Höffner