In den 1970er Jahren betrachteten noch 81 Prozent der Bundesbürger*innen den Konsum von Haschisch auf einer Party als eine sehr oder ziemlich schlimme Verhaltensweise, die moralisch verurteilt werden sollte (Reuband 1988, S. 483). In den letzten 50 Jahren haben sich die Einstellungen zur Nutzung von Cannabis sukzessive in Richtung einer liberaleren Haltung verändert. Wurde die Legalisierung von Cannabis in den 1980er Jahren lediglich von 6-7 Prozent der Bundesbürger*innen befürwortet (Reuband 1988, S. 491f., Reuband 2015, S. 35) votierten im Jahr 2021 das erste Mal mehr von ihnen für als gegen eine Legalisierung (Infratest Dimap 2021, siehe auch Ipsos 2022). Mit der Teillegalisierung von Cannabis im April 2024 reiht sich Deutschland in eine vor allem seit den 2010er-Jahren in verschiedenen Teilen der Welt zu beobachteten Liberalisierungswelle ein, die jenseits der Prohibition unterschiedliche Regulierungsformen von Cannabis hervorgebracht hat (Zobel 2014, Böllinger 2018). Diese gesetzlichen Veränderungen zielen entweder darauf ab Cannabis als Medikament zu definieren, das durch Ärzte zur Behandlung von Krankheiten verschrieben werden kann oder es für den Freizeitgebrauch zu entkriminalisieren oder sogar legalisieren. Bestehende Modelle der Entkriminalisierung und Legalisierung von Cannabis – etwa im Rahmen des Coffeeshop-Modell in den Niederlanden, der Cannabis Social Clubs in Spanien und Belgien oder legaler Cannabis-Märkten in Uruguay, verschiedenen Bundesstaaten der USA und Kanada – werden inzwischen von einer ganzen Reihe an weiteren Staaten als Vorbild für eigene drogenpolitische Reformvorhaben diskutiert. Parallel zu Deutschland wurden etwa auch in Luxemburg, Kolumbien, Nordmazedonien, Thailand und Costa Rica Legalisierungspolitiken eingeleitet. In soziologischen Fachdebatten des deutschsprachigen Raumes spielen diese Transformationsprozesse im Speziellen aber auch Cannabis im Allgemeinen nur sehr selten eine Rolle. In den bekanntesten Zeitschriften der Soziologie findet sich kein einziger Artikel, der mit „Cannabis“, „Marihuana“ oder „Haschisch“ verbundene soziale Phänomene substanziell untersucht. Cannabis war zwar seit den 1970er Jahren die am häufigsten konsumierte illegale Droge, die Soziologie hat aber lediglich in wenigen Nischen der Kriminal-, Devianz- und Jugendsoziologie Studien hervorgebracht, die tiefgehender die Regulation, den Konsum, die Produktion und den Handel von Cannabis in Deutschland untersucht haben (z.B. Reuband 1994, Quenzel et al. 1996, Freitag/Hurrelmann 1999, Reuband 2007, Werse 2008). Vor dem Hintergrund, dieser Forschungslücke untersuchen wir im Lehrforschungsprojekt die Frage, inwiefern die Einführung neuer rechtlicher Normen auf der Makroebene der Gesellschaft (des Cannabisgesetzes in Deutschland) dazu führt, dass sich auch die soziale Praktiken und subjektiven Deutungsmuster von Cannabis-Nutzer*innen auf der Mikroebene verändern. Hierzu werden die Verläufe von Cannabiskarrieren im Hinblick auf vier Dimensionen untersucht: 1. Wann und wie kommen Cannabiskonsument*innen das erste Mal mit Cannabis in Kontakt? 2. Welche Rolle hat Cannabis seither in verschieden Phasen und Bereichen ihres Leben gespielt? 3. In welchen Bereichen hat die Legalisierung von Cannabis ihr Leben auf welche Weise verändert? 4. Wie beurteilen sie die Art und Weise wie Cannabis in Deutschland legalisiert wurde und inwiefern würden sie bestimmte Aspekte verändern wollen? Theoretisch nimmt das Projekt seinen Ausgangspunkt in der von Howard Becker, einem amerikanischen Soziologen und Jazzmusiker, entwickelten Stufentheorie des Cannabiskonsums. Auf der Grundlage von 50 Interviews mit Cannabiskonsument*innen kam Becker in den frühen 1950er Jahren zu dem Ergebnis, dass für jede Form des Konsums – Probierkonsum, Gelegenheitskonsum und regelmäßiger Konsum – zwingende Bedingungen erfüllt sein müssen, um Cannabiskonsument*in werden und auch bleiben zu können (Becker [1953] 2019). Zentrale Prozesse für die Möglichkeit des Cannabiskonsums sind nach Becker z.B. die Erlernung der Rauchtechnik, die Verbindung von bestimmten Wirkungen mit dem Rauchen und deren Deutung als etwas Positives, Wohltuendes. Ferner müssen (insbesondere regelmäßige) Cannabiskonsument*innen resistent gegenüber sozialen Kontrollmechanismen werden (Becker [1955] 2019), indem sie z.B. Toleranz gegenüber den Risiken einer möglichen Bestrafung entwickeln sowie Techniken der Geheimhaltung. Gegen Theorien gerichtet, die den Cannabiskonsum aus vorgelagerten Motiven und Dispositionen von Individuen heraus erklären wollen, modelliert Becker die Erlernung des Rauchens selbst, aber auch der damit verbundenen Bedeutungen, Motive, sinnlichen Wahrnehmungen, Emotionen und Rationalisierungen als einen Prozess des sozialen Lernen durch gemeinsame Erfahrungen in bereits mit der Praxis vertrauten Bezugsgruppen. Auf der Grundlage der Durchführung von problemzentrierten Interviews (Witzel/Reiter 2022) untersuchen wir, inwiefern die von Becker herausgearbeiteten Modelle auch Jahrzehnte später eine adäquate Beschreibung von Cannabiskarrieren unter veränderten sozialen Verhältnissen ermöglichen. Insbesondere die Digitalisierung, aber eben auch die Legalisierung selbst werden als zentrale „verdächtige“ untersucht die einige Revisionen und Differenzierungen nötig machen. Für die Teilnahme am Lehrforschungsprojekt wird Bereitschaft zur Mitarbeit an einer gemeinsam durchgeführten Studie erwartet. Dies beinhaltet die Lektüre von Forschungsliteratur, die Gestaltung eines gemeinsamen Erhebungsinstruments, die Durchführung, Transkription und Auswertung von Interviews sowie das Verfassen eines Forschungsberichts.
- Lehrende/r: Björn Wendt