1924 schrieb die britische Schriftstellerin Virginia Woolf ihre wohl heute noch bekannteste Passage: „On or around December 1910, human character changed. I am not saying that one went out, as one might into a garden, and there saw that a rose had flowered or a hen had laid an egg. The change was not sudden and definite like that, but a change there was, nevertheless …".
Und tatsächlich waren historische Veränderungsprozesse in den gut 40 Jahren vor Woolfs Aussage ubiquitär. Egal ob man in die Kolonial-, Attentats-, Emotions-, Global-, Geschlechter- oder Verfassungsgeschichte schaut, sie alle sehen, dass in den 1880er entscheidende Weichen gestellt wurden, für den allmählichen Siegeszug dessen, was man heute landläufig als (europäische) „Moderne“ bezeichnet.
Trotzdem verbieten sich allzu optimistische Perspektiven auf diese Umbruchszeit. Telegraphenmasten, Eisenbahnen und Dampfschiffe brachten zwar eine bis dahin ungekannte Mobilität und Kommunikationsdichte, taten dies jedoch Im Fahrwasser europäischer Kolonialimperien, die die Welt gnadenlos unter sich aufteilten. Die gleichen europäischen Mächte versuchten zwar, den Krieg durch Völkerrecht zu zähmen, nur um ihn gegenüber „unzivilisierten“ Völkern um so brutaler zu entfesseln und Europa dann zwischen 1911 und 1923 in eine bis dato unbekannte Gewaltorgie abgleiten zu lassen. Am Ende der Auseinandersetzung um politische Partizipation in diesen Jahren standen in den meisten europäischen Gesellschaften zwar Bürgerrechte, Demokratie und Frauenwahlrecht, in Italien und der Sowjetunion jedoch Faschismus und Sowjetkommunismus. Und so konnte Antonio Gramsci 1930 zurecht resümieren: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“
Das Proseminar versucht, das lange Fin de Siècle, jene 40 Jahre zwischen 1880 und 1923, die mit einem scheinbar umfassenden Fortschrittsoptimismus begannen und in Gramscis Interregnum mündeten, zu verstehen. Dafür betrachtet es Themen aus der Politik-, Sozial-, Kultur-, Wissen-, Geschlechter- und Globalgeschichte. Damit verfolgt es drei Ziele: 1) Die Studierenden erhalten einen Überblick über die mannigfaltigen Veränderungen zwischen 1880 und 1923, ohne die sich das 20. Jahrhundert nicht verstehen lässt. 2) Die Teilnehmer:innen üben die Reflexion über Periodisierungen und Perspektivierungen der Neuesten Geschichte ein. 3) Die Studierenden erlernen die Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens im Bereich der Neuesten und Zeitgeschichte.
- Lehrende/r: Kevin Lenk