Das hier angebotene Seminar möchte zwei Themen ineinandergreifen lassen, die in der Geschichte des sozialwissenschaftlichen Denkens eine herausragende Rolle gespielt haben. Trotz aller wissenschaftlichen Bekenntnisse zur harten Faktizität und sichtbaren Empirie, die sich für die eigene Analyse unmittelbar verwertbar machen lassen: Existieren im gesellschaftlichen Raum nicht auch Phänomene, die sich aktiv dem analytischen Blick wie Alltagsverständnis entziehen? Mit dem Begriff des Unbewussten in der Tradition von Freud und seinen Vorgängern stellte sich die Frage, inwieweit es Mechanismen gibt, die, unentdeckt, zu Krankheitssymptomen nicht nur individueller, sondern auch kollektiver/kultureller Art führen könnten. Damit wurde auch für die Sozialtheorie ein spekulativer Gegenstandsbereich aufgeschlossen, in den die bürgerliche Rationalität gewaltsam hineindrang. Wie das sogenannte Psychische in die Sphäre des Gesellschaftlichen hineingeriet, ja von dieser verdächtigt und überwacht wurde, soll uns hier insbesondere darum interessieren, weil das Unbewusste nicht nur als gespiegelter Erfahrungsraum gesellschaftlicher Strukturalität galt, der sich in Träumen reproduzierte. Diesem haftete zugleich immer auch etwas Subversives, Gesellschaftskritisches an, von dem sich Herrschaft herausgefordert fühlte. Nicht umsonst wollten die Surrealisten um André Breton oder spätere Autorinnen wie Elisabeth Lenk (Stichwort: Kritische Phantasie) dieses Potential heben.
Um in diese Thematik adäquat einführen zu können, werden wir uns nicht nur mit einschlägigen Texten aus psychoanalytischen Denkschulen (z. B. Ödipus-Komplex, Narzissmus) und Diskurstheorien (Foucault, Macht der Psychiatrie) zu beschäftigen haben, sondern zugleich mit jenen Gegenständen aus der bildenden Kunst und schöngeistigen Literatur konfrontiert sein, die der Wirkmächtigkeit des Unbewussten als etwas die Menschen gewaltsam Einnehmendes zum Ausdruck verhalfen (Lautrémont/Lewis Carroll). Deutet sich hiermit eine soziologische Ästhetik an, interessiert uns in diesem Seminar vor allem eine entwicklungsgenetische Perspektive. Mit Beginn der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft findet, so unsere These, ein Umbau der Seele statt, durch den, nach und nach, Herrschaft zu seriellen Reproduktionsmustern heranreifte, die bis heute tief in die Triebstruktur des Individuums eingreifen und ihr Schicksal auf gesellschaftliche Institutionen unwidersprochen vereidigen.
Um sich auf diese „Schicksale der Unbewußtmachung” (Erdheim) gesellschaftstheoretisch einen Reim zu machen, wird es zuallererst nötig sein, sich über den Begriff der Krankheit zu verständigen hinsichtlich einer Psychopathologie des Sozialen. Kann eine Gesellschaft „krank” sein (Erich Fromm), und wenn ja, inwieweit zeugt dies von einer unheilvollen Allianz von Herrschaft und Unbewusstheit?
Thematisch einschlägige Exkurse zum Verhältnis von Rausch und Realität, eine Einsichtnahme in die Studie der Mitscherlichs zur „Unfähigkeit zu trauern” sowie Norbert Eilas‘ Schrift „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen” können das Angebot soziologisch wie sozialpsychologisch ergänzen.
Für die gemeinsame Grundlage unserer Seminardiskussion werden zu Veranstaltungsbeginn im Learnweb entsprechende Textauszüge zur Verfügung gestellt.
Fragen zum Scheinerwerb werden in der ersten Sitzung geklärt.
- Lehrende/r: Kevin Rick Doß