Viele Phänomene, die im Christsein begegnen, sind im besten Sinn fragwürdig und deutungsbedürftig, gerade dort, wo von Gotteserfahrungen gesprochen wird. Bedeutende Autor:innen der Spiritualitätsgeschichte leiten an zu einem „guten Zweifel“ – ein wenig ähnlich dem methodischen Zweifel in den Wissenschaften. Dieser gute Zweifel soll bewahren vor vorschnellen geistlichen Deutungen, spirituellen Kurzschlüssen, Einseitigkeiten bzw. zu eiligen Vereinnahmungen Gottes für eine bestimmte Erfahrung, „Stimme“, Regung etc. … und entsprechend einem zu zügigen Gehorchen.
Für Glaubende als Einzelne wie für die Kirche braucht es also eine „Hermeneutik des geistlichen Lebens“ (Simon Peng-Keller). Individuell stellt sich die Grundfrage: Welche der vielen Stimmen und Antriebe in mir (auch im Gebet) könnten dem göttlichen Geist entspringen oder entsprechen, und welche eher den „Abergeistern“? Wenn es von Gott her so etwas gibt wie einen „individuellen Imperativ“ (Karl Rahner): was könnte mein Ruf sein inmitten mehrerer verlockender Alternativen? Wo geht es angesichts verschiedener Optionen gar nicht um ein „gut“ oder „schlecht“, ein „richtig“ oder „falsch“, sondern komparativisch um ein „je mehr“ des Guten und Lebensförderlichen? Welches Maß ist zuträglich – einem selbst und anderen, die einem anvertraut sind? Wie übersetze sich ein „Grundgewissen“ in eine konkret gegebene Situation? In all diesen Feldern ist wohl auch zu bedenken, wo eine „Wut des Verstehens“ (Joachim Hörisch) zu viel an Klarheit und Eindeutigkeit erpressen will. Kollektiv-kirchlich war und ist die Gemeinschaft der Glaubenden immer wieder mit der Frage konfrontiert, welche Lehre und Gestalt sie inmitten aller Transformationen in Ursprungstreue hält, was wahr ist im Sinne von glaubenswürdig. Und welche Lehrenden bzw. Propheten sind „echt“, verdienen Vertrauen? Was für eine Rolle kommt besonderen Phänomenen wie Visionen und Prophezeiungen zu? Wie sollen Christen jeweils in Dialog mit der sie umgebenden Kultur treten, die „Zeichen der Zeit“ deuten und welcher Weg ergibt sich daraus für die Zukunft der Kirche? All diese Fragen haben sich in den verschiedenen Epochen der Spiritualitätsgeschichte gestellt. Und viele davon drängen sich unter den postchristlichen und postsäkularen Bedingungen einer oft widersprüchlichen, unübersichtlichen Welt mit schnell wechselnden Situationen a fortiori auf. Umso mehr ist das gefragt, was in Spiritualität und Theologie unter dem Stichwort „Unterscheidung der Geister“ firmiert und zum „spirituellen Erbgut des Christentums von den Anfängen an“ gehört (Günter Switek). Die Lehrveranstaltung nimmt in Blick, welche Kriterien hier für die individuellen wie kollektiv-kirchlichen Problemfelder erdacht und erprobt worden sind, angefangen von der Schrift über die Väter und das Mittelalter bis hinein in die Gegenwart. Diese Deutehorizonte sollen ein Wechselspiel mit den deutungsbedürftigen Widerfahrnissen (Simon Peng-Keller) und damit eine geistesgegenwärtige Navigation durch das Leben ermöglichen.
- Lehrende/r: Michael Höffner