Mit zwinkerndem Auge entwirft Thomas Morus (1516) einen Idealstaat, der als Utopia in die Literatur- und Geistesgeschichte eingeht. Dient Morus der vermeintlich verherrlichte ‚Nicht-Ort‘ als Kontrastfolie, um satirisch Kritik am englischen Königreich zu üben, so verschiebt sich mit der kürzenden Übersetzung Claudius Cantiunculas (1524) der Fokus auf den idealen Staat selbst. Er macht den Text gleichsam zu einem Handbuch, um selbst einen vorbildlichen Staat mit Gleichheit, Gemeineigentum und reglementierter Familienpolitik zu errichten. In der weiteren Gattungsgeschichte sind zwei Zweige zu unterscheiden: einerseits eine affirmative Rezeption etwa mit Johann Valentin Andreaes Christianopolis (1619), andererseits widersprechende Schreckensszenarien wie Johann Karl Wezels Robinson Krusoe (1779/80). Wirken bereits die rigiden ‚Idealstaaten‘ von Morus, Cantiuncula und Andreae auf einen modernen Rezipienten einschüchternd, da sie keinen Raum für individuelle Entfaltung bieten und jegliche Freiheit für Sicherheit und Wohlfahrt aufopfern, so erweist ein Vergleich mit staatswissenschaftlichen Traktaten (den sog. Schriften zur ‚Guten Policey‘), dass sie den Vorstellungen in absolutistischen Staaten bis ins späte 18. Jahrhundert durchaus entsprachen. Auch ‚Dystopien‘ wie Wezels Defoe-Bearbeitung unterscheiden sich weniger aufgrund des inhaltlichen Gesellschaftsentwurfs von den literarischen Utopien als durch die eingenommene Perspektive: Blenden Utopien bei der Darstellung des idealen Staatswesens den Einzelnen tendenziell aus, fokussieren Dystopien gerade ein konkretes Individuum. Das Seminar hat nicht nur den Anspruch, in die Faktur und Funktionsweise der Gattungen Utopie und Dystopie einzuführen. Ziel ist es vor allem, durch die realweltliche Kontextualisierung die Werke aus einer rein literaturgeschichtlichen Isolation herauszulösen.

Kurs im HIS-LSF

Semester: ST 2024