Das Meer war in vormodernen Gesellschaften in seiner scheinbar grenzenlosen Ausdehnung und unergründlichen Tiefe, mit der Vielfalt und bisweilen Monstrosität seiner Kreaturen, dem unberechenbaren Wechsel von Aufruhr und Stille mit ambivalenten Assoziationen verbunden. Lebenspendende und erhaltende Konnotationen standen der Furcht vor dem Undurchdringlichen und Unbezähmbaren gegenüber. Das Meer stellte die naturgegebene Grenze menschlicher Unternehmungen dar; sie wie Odysseus aus Neugierde zu überschreiten, konnte als Zeichen menschlicher Hybris gedeutet werden. Mit dem Seehandel wurde insbesondere das Mittelmeer seit dem Spätmittelalter zu einem Raum der Mobilität und des Austauschs nicht nur von Waren, sondern auch von Wissen und Kulturgütern. Den Unwägbarkeiten der fortuna maris begegneten die Kaufleute mit rationalen Risikoabwägungen. Technischer Fortschritt und die Erforschung der Ozeane konnten die Ambiguität in der menschlichen Sicht auf das Meer jedoch nie gänzlich tilgen.
Im Seminar wollen wir uns der literarischen Darstellung des Meeres anhand ausgewählter Textauszüge aus Dantes Divina Commedia, Petrarcas Canzoniere, Boccaccios Decameron und Ariosts Orlando Furioso widmen. Wir fragen zum einen danach, wie die literarischen Werke das Meer als Natur- und Rechtsraum konzipieren; zum anderen wollen wir die narrative Funktion des Meeres und den Gebrauch von Meeresmetaphorik zur Beschreibung von Seelenzuständen erfassen.
- Lehrende/r: Pia Claudia Doering