In diesem Seminar soll die Soziologie als ein interessanter Gegenstand wissenschaftsphilosophischer Auseinandersetzung in Betracht gezogen werden. Der Fokus liegt dabei auf dem Methodenstreit in der Soziologie. Dieser Streit begleitet die Soziologie nicht nur beinahe seit ihren Gründungsjahren, sondern hat dabei im Laufe der Zeit gleich mehrfach seine äußere Gestalt gewandelt. So drehte sich der Methodenstreit – anknüpfend an die ab den 1880er Jahren entwickelten Vorschläge zur Verhältnisbestimmung von Natur- und Geisteswissenschaften – zunächst um die Frage, ob es sich bei der Soziologie eher um eine Geistes- oder eine Naturwissenschaft handle und ob ihr methodisches Inventar entsprechend auf ein Verstehen oder ein Erklären der jeweiligen soziologischen Forschungsgegenstände ausgerichtet sei (man mag es bereits ahnen: das muss sich nicht ausschließen). Im Positivismusstreit der 1960er Jahre wurde dieser Streitpunkt in ein neues begriffliches Gewand gekleidet, indem nun die Frage debattiert wurde, ob die Sozialwissenschaften im Allgemeinen nach dem (damaligen) Vorbild der Naturwissenschaften in deduktiv-falsifikationistischer Manier vorzugehen hätten oder aber auf eine eigene, den Geisteswissenschaften näher verwandte kritisch-dialektische Methode zurückgreifen sollten (entsprechend unterschiedlich wurde dann übrigens auch die gesellschaftliche Funktion der Sozialwissenschaften überhaupt bewertet). Die vorerst letzte Station des Methodenstreits kann schließlich in der etwa seit den 1980er Jahren geführten Debatte um den Stellenwert qualitativer und quantitativer Methoden in der Soziologie gesehen werden. Dabei stehen – grob gesagt – erstere eher in der Tradition der „verstehenden” Geisteswissenschaften, während letztere ihren Ausgangspunkt eher in den „erklärenden” Naturwissenschaften zu finden scheinen.
Man sieht: Bei dem Methodenstreit in der Soziologie handelt es sich um ein Problem mit einer langen Geschichte, in deren Verlauf sich immer wieder auch Berührungspunkte mit der (Wissenschafts-)Philosophie ergeben haben. Das allein dürfte Grund genug sein, sich einmal näher aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive mit diesem Themenfeld zu befassen. In diesem Seminar wird es dabei nicht nur um die Klärung zentraler Begriffe der jeweiligen Methodenlager (wie eben z.B. „erklären” und „verstehen” oder „qualitativ” und „quantitativ”) gehen, sondern auch um die Frage nach der Verortung der verschiedenen soziologischen Strömungen im Gesamtgefüge der Wissenschaften. Außerdem wird von Interesse sein, wie paradigmatische Unterscheidungen der Wissenschaftsphilosophie (z.B. die Unterscheidung zwischen Entstehungs-, Rechtfertigungs- und Anwendungszusammenhang) in der Soziologie jeweils unterschiedlich methodisch verarbeitet werden.
Wir werden zu diesem Zweck einerseits zentrale Texte aus den drei oben genannten Stadien des Methodenstreits lesen und diese andererseits durch (wissenschafts-)philosophische Literatur sowie durch soziologische Überblicks- und Einführungsliteratur ergänzen. Die endgültige Literaturauswahl sowie die Details zur Seminarorganisation werden in der ersten Seminarsitzung bekannt gegeben.
- Lehrende/r: Jochen Müller