Nur wenige Städte in Ostmitteleuropa spiegeln die für diese Region so typische Vielfalt an Konfessionen und Kulturen, von denen sie über tausend Jahre hinweg geprägt wurde, derart ausdrucksstark wider wie Vilnius. Seit über 30 Jahren ist Vilnius die Hauptstadt des eigenständigen Nationalstaates Litauen, und die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität, die Erinnerung an die Singende Revolution von 1990, der Erneuerungsbewegung Sajudis und die Trennung der einstigen Sowjetrepublik von der Macht des Kremls sind nach wie vor beherrschende Themen von identitätspolitischer Bedeutung. Neben dieser Perspektive wurde die Stadt auch von den Ruthenen geprägt, aus denen später die Nation der Belarusen entstand: Ruthenisch und nicht Litauisch war die Kanzleisprache des Großfürstentums. Weit geschichtsmächtiger aber noch ist die Verflechtung der litauischen mit der polnischen Geschichte. Nach Jahrhunderten engster Interaktion traten Polen und Litauer im 19. Jahrhundert in Form moderner Nationalbewegungen in Vilnius/Wilno in Konkurrenz und bildeten fortan eine städtische Konfliktgemeinschaft. Seit der Frühneuzeit spielte Vilnius auch für die Juden eine überaus bedeutsame Rolle, entwickelten sich doch hier bedeutende theologische Lehranstalten zu einem wichtigen geistigen Zentrum, zum „Jerusalem des Nordens“. Zur multikulturellen Stadtgeschichte gehörte im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch die Herrschaft des Zarenreichs mit ihren lokalen Beamten und Militärs und dem Versuch, die Russisch-Orthodoxe Kirche in der Region zu verankern. Schließlich hinterließen die beiden Diktaturen, die Litauen im 20. Jahrhundert beherrscht haben, ihre Spuren: die kurze sowjetische Okkupation 1940/41, die deutsche Besatzung 1941 bis 1944 und die Zeit der sowjetischen Herrschaft von 1944 bis 1990/91.

Das Hauptseminar wird sich auf einer ersten Ebene mit einer Rekonstruktion der wichtigsten Etappen der Stadtgeschichte beschäftigen, auf einer zweiten Ebene mit den vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert konkurrierenden diskursiven Ansprüchen auf die Stadt und auf einer dritten Ebene die geschichtskulturellen und erinnerungspolitischen Debatten von Litauern, Juden, Polen, Belarusen und Russen seit den 1990er Jahren beleuchten. Grundlegend für die dritte Ebene wird das von Pierre Nora entwickelte Konzept der Erinnerungsorte (lieux de mémoire) sein, aber auch die materiellen Orte der Erinnerung (lieux de mémoires) und damit die Erschließung von Vilnius als historischem Erinnerungsraum werden eine große Rolle spielen und der Vorbereitung der Exkursion dienen.

Eine Teilnahme am Hauptseminar ist unabhängig von einer Teilnahme an der Exkursion möglich. Umgekehrt aber ist eine Teilnahme an der Exkursion zwingend an die Teilnahme am Hauptseminar gebunden.

Studienleistung: Regelmäßige Teilnahme (max. 2x Fehlen), wöchentliche Lektüre, wöchentliche schriftliche Hausaufgaben, digital hochgeladene Präsentationen; Prüfungsleistung: Hausarbeit

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2024