Seine Ehre zu verteidigen und zu seinem Recht zu gelangen – dies waren die existenziellen Aufgaben des landnahmezeitlichen Isländers, wenn man dem durch die Íslendingasögur vermittelten Eindruck vom Gebaren ihrer Protagonisten Glauben schenken darf. Dabei folgen die mächtigen Isländer weder durchgehend den Regeln, welche Rechtstexte für die Beilegung von Konflikten aufstellen, noch verhalten Sie sich wie die Akteure des 13. Jahrhunderts in den Gegenwartssagas. In den Königssagas wiederum werden die Herrscher in der jüngeren Geschichte analog zu den Bestimmungen der Rechtstexte, in der fernen Vergangenheit dagegen als beinahe allmächtig dargestellt. Dieses problematische Verhältnis der verschiedenen Textgattungen und ihrer Epochenmodelle zueinander wurde in der Forschungsgeschichte auf sehr verschiedene Weise analysiert und erklärt. Gerade die von der Rechtsanthropologie inspirierte Forschung der letzten Jahrzehnte hat die Relevanz der Saganarrative stark aufgewertet, mitunter allerdings um den Preis, dass der literarische Charakter der Isländersagas und die Diversität innerhalb des Textcorpus ebenso in Vergessenheit gerieten wie die Existenz anderer norröner Genres, die gleichfalls den Austrag und die Regulierung von Konflikten behandeln. Wie verhalten sich also normative Quellen, narrative Modellierungen der söguöld und der Sturlungaöld, Königssagas und gar höfische Texte zueinander? Das Seminar wird sich anhand einer repräsentativen Auswahl an Texten des norrönen Mittelalters mit Grundtendenzen und Problemen der Forschung zum Verhältnis zwischen Recht und Literatur auseinandersetzen.

Es wird um Anmeldung im Learnweb bis zum 06.10. gebeten.

 

Einführende Literatur:

  • Disputing Strategies in Medieval Scandinavia, hrsg. von Kim Esmark, Lars Hermanson, Hans Jacob Orning und Helle Vogt, Leiden/Boston 2013 (Medieval Law and Its Practice 16).
  • William Ian Miller: Bloodtaking and Peacemaking. Feud, Law and Society in Saga Iceland, Chicago 1990.
  • Dieter Strauch: Mittelalterliches nordisches Recht bis 1500. Eine Quellenkunde, Berlin/New York 2011 (Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Ergänzungsband 73).
  • Klaus von See: Selbsthilfe und öffentlicher Strafanspruch im mittelalterlichen Norden, in: Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schriftkultur bei der Ausbildung der frühmittelalterliche Rechtskultur, hrsg. von Gerhard Dilcher und Eva-Marie Distler, Berlin 2006, 377-390.
  • Uwe Wesel: Geschichte des Rechts in Europa. Von den Griechen bis zum Vertrag von Lissabon, München 2010.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2023/24