Das Forschungsseminar prüft die in der geistes-, sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung immer häufiger vertretene These, dass es sich bei der sogenannten ‚Ost-Identität‘, die als mitverantwortlich für eine zunehmende Frustration großer Teile der Bürgerschaft in Ostdeutschland, eine wachsende gesellschaftliche Spaltung und als Gefahr für die Demokratie gesehen wird, um eine Chimäre handelt (Gabriel et al. 2015; Salheiser 2021; Oschmann 2023): um eine mediale  Konstruktion, die den Osten identitätspolitisch interpretiert und ihn genau dadurch faktisch isoliert. Diese These umfasst im Kern zwei Hauptbestandteile: Die erste Annahme, dass Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland wesentlich Folge individueller (oder familiärer) Entscheidungen und Handlungen sind, wie sie sich als Ungleichheiten etwa zwischen Tüchtigen und weniger Tüchtigen in jeder modernen Gesellschaft mit Leistungsanreizsystemen zeigen und nicht durch Strukturen bedingt sind, die 30 Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen staatlichen Einheit überwunden sein sollten. Ferner die zweite Annahme, dass der mediale öffentliche Raum, in dem Ost- und Westdeutschland verhandelt werden, als ökonomischer, medialer und diskursiver Raum nicht nur komplett in westdeutscher Hand, sondern auch wesentlich auch von westdeutschen Perspektiven dominiert ist.

Das Forschungsseminar setzt sich kritisch mit dieser These einer ‚westgemachten‘ Ost-Identität auseinander, indem es nach den a) strukturellen und individuellen Unterschieden b) in und zwischen Ost- und Westdeutschland fragt, c) nach den ökonomischen, strukturellen und personalen Merkmalen öffentlicher Kommunikationsmedien in der Bundesrepublik Deutschland und d) „wann und warum [manche Menschen] einzelne Beobachtungen (vornehmlich im Osten) zu einer Erzählung verbinden, die insinuiert, es gäbe eine fatale und zentrale Steuerungsmacht […]“ [und andere Menschen eben nicht] (Kerschbaumer 2022)?

Neben der (unvermeidbaren) inhaltlichen Befassung mit dem Sachverhalt hinter dem Seminartitel geht es in diesem Forschungsseminar darum, die ‚Technik und Logik‘ einer auf 'fremde' statt eigene Literatur und Daten gestützen Arbeit kennen zu lernen und zu üben, die ausgehend von einer These, Idee oder theoretischen Überlegung empirische Daten, Einzelbefunde und Fallanalysen sichtet, gewichtet und verbindet. Das Forschungsseminar soll also den nächsten Studienabschnitt, die BA-Arbeit, anleiten und unterstützen, wo regelmäßig Arbeiten dieses Typs entstehen.

Leistungsnachweise: Recherche, Kurzpräsentationen, Teilberichte

 

Literatur:

Oschmann, D. (2022). Wie sich der Westen den Osten erfindet (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/deutschland-wie-sich-der-westen-den-osten-erfindet-17776987.html). 

Kerschbaumer, S. (2022). Ost- und Westdeutsche. Die Bilder der anderen (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/debatte-ueber-ostdeutsche-und-westdeutsche-17789343.html).

Gabriel, O. W., Holtmann, E., Jaeck, T., Leidecker-Sandmann, M., Maier, J. & Maier, M. (2015), Deutschland 25. Gesellschaftliche Trends und politische Einstellungen, Bonn.

Salheiser, A. (2021). Welche Akzeptanz hat die repräsentative Demokratie in Ostdeutschland?(https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/340472/welche-akzeptanz-hat-die-repraesentative-demokratie-in-ostdeutschland/)

sowie diverse Berichte aus ÖK-Medien (werden via Learnweb zur Verfügung gestellt)

Semester: WiSe 2023/24