Ortsfamilienbücher sind eine weit verbreitete Form populärer Geschichtskultur. Älteste Varianten entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext der pragmatischen Schriftlichkeit von Pfarrern bei der Dokumentation der Sakramente in den Kirchenbüchern. Um 1900 brachte die Vereinsbewegung mit ihrem Interesse an lokalen historischen Quellen bürgerliche Amateure auf ähnliche Ideen; ebenfalls ab der Jahrhundertwende begannen sich von wissenschaftlicher Seite die entstehende Vererbungslehre und Rassenhygiene für genealogische Massenerhebungen zu interessieren. In Reaktion auf die territoriale Neuordnung Europas durch den Ersten Weltkrieg und in Abwehr gesellschaftlicher Liberalisierung und Demokratisierung kam es nach 1918 zu einer regionalistisch-nationalistischen Akzentuierung dieses Genres. Der NS-Staat griff das auf und sorgte mit dem reichsweit implementierten, aufwändig betriebenen Dorfsippenbuchprojekt für eine völkische Popularisierung von Ortsfamilienbüchern, deren Daten jedoch in den meisten Fällen kriegsbedingt erst nach 1945 massenhaft publiziert wurden. In dieser Zeit hatten insbesondere Landsmannschaften und Vertriebenenverbände aus politisch-revanchistischen Gründen ein Interesse an Recherchen zu Ortsfamilienbüchern östlich der Oder-Neiße-Linie, das war nicht immer deckungsgleich mit der von vertriebenen Personen und Familien mit Hilfe dieses Genres gepflegten Erinnerungskultur. Im Kontext der Sozialgeschichte und Historischen Demographie sowie durch neues bürgerschaftliches Engagement entstand ab den 1960er Jahren eine weitere Ausprägung des Genres, mit dem nun auch transnationale Familiengeschichten vor allem aus der Auswanderung in die USA im 19. Jahrhundert abgebildet wurden. Neueste Entwicklungen der Ortsfamilienbücher basieren auf dem von Familienforscher:innen erstrittenen Zugang zu Kirchenbüchern (open access und digital) und auf dem nun von Laien selbst erarbeiteten historisch-kritischen Umgang mit Quellen sowie auf Kooperationsprojekten der Archive der öffentlichen Hand mit diesen Ehrenamtlichen, beflügelt durch politische Konzepte von citizien science.

 

Im ersten Teil der Lehrveranstaltung werden wir Konzepte und Begriffe zur Analyse des Ineinanders von populärer Geschichtskultur und akademischer Wissensproduktion in ihrem historischen Wandel und in ihrer jeweiligen Resonanz mit politischen Interessen kennenlernen. Im zweiten Teil unternehmen die Studierenden selbst eine Übungsforschung. Als Quellenkorpus steht ein riesiger (gedruckter, z.T. digitalisierter, z.T. born digital) Bestand an mehreren Tausend Ortsfamilienbüchern zur Verfügung. Dabei geht es auch um die Auseinandersetzung mit den in Ortsfamilienbüchern vorliegenden, populären und wissenschaftlichen Formen der Verwandlung, Interpretation und Präsentation von Daten aus ungedruckten Quellen (v.a. Kirchenbücher) in diagrammatische Visualisierungen, Erzählungen, Listen und Datenbanken. Damit will diese Themenübung die Studierenden in zwei Feldern schulen: für eine wissenschaftlich fundierte Tätigkeit in der öffentlichen Kultur- und Wissenschaftsvermittlung, in der Kooperationen mit Ehrenamtlichen an Bedeutung gewinnen, und im Feld einer kulturanthropologischen Wissenschaftsforschung, die die Ko-Produktion von Wissenschaft und Gesellschaft anhand eines empirischen Falls vertiefend und systematisch in den Blick nimmt.

 

Studierende in den Studien- und Prüfungsordnungen des MA-Studiengangs Kulturanthropologie vor oder ab 2022 erbringen als Studienleistung ein Kurzreferat (20 Min.) und als Prüfungsleistung (MTP) eine Forschungsskizze.

 

Studierende egal welcher Fächer, die eine (benotete und / oder  unbenotete) Leistung für das Zertifikat Digital Humanties erbringen möchten, melden sich bitte bis 20. September 2023 per Email bei Elisabeth.Timm@uni-muenster.de.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2023/24