Wird Politik idealerweise von vernünftigen Akteur_innen ausgeübt? Nach gängigen Politikverständnissen sollten rationale Abwägungen die Grundlage von gesellschaftlichen Entscheidungen sein; private, individuelle und unpolitische Affekte und Emotionen müssen entsprechend kontrolliert und beschränkt werden. Dieses rationalistische Politikverständnis wird von verschiedenen zeitgenössischen Philosoph_innen mithilfe des Konzepts der ‚Affekte‘ infrage gestellt. Affekte werden hier nicht als individuelle Angelegenheiten verstanden; im Gegenteil wird deren Bedeutung für Sozialität, Gesellschaftlichkeit und politisches Verhalten in den Blick genommen. Affekte strukturieren Gesellschaft und Zusammenleben – sie können sowohl Mittel der Unterdrückung und Manipulation als auch die Grundlage für widerständige Bewegungen sein. Dabei verweisen Affekte auf eine Überschreitung von Trennungen zwischen etwa privat und öffentlich oder intim und unpersönlich. Aus feministischer und postkolonialer Perspektive erscheinen eben diese Überschreitungen von binären Kategorisierungen und die (erneute) Politisierung des Privaten und der abgewerteten feminisierten Emotionalität als politische Potentiale (bspw. Sara Ahmed, Marie-Luise Angerer, Lauren Berlant, Mel Chen, Eve Kosofsky Sedgwick, Ann Stoler u.a.).

Dabei sind die Verwendungsweisen des Affektbegriffs denkbar heterogen: So finden sich auf der einen Seite Theorien, die Affekte als mehr oder weniger gleichbedeutend mit dem Begriff der ‚Emotion‘ verwenden. Auf der anderen Seite argumentieren Theoretiker_innen insbesondere in Anschluss an Spinoza für eine Trennung zwischen Affekt und Gefühl. Affektivität verstehen Letztere als die Kraft von Körpern, miteinander Verbindungen und Verhältnisse einzugehen und sich dadurch zu konstituieren – womit die Vorstellung von klar voneinander abgrenzbaren Subjekten radikal unterlaufen wird (etwa Gilles Deleuze und Félix Guattari, Brian Massumi). Im Seminar werden wir uns einige der prägenden Perspektiven zum Begriff der Affektivität und dem „affective turn“ erarbeiten und nach dem damit verbundenen Politikverständnis fragen.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2023/24