Rom, Petersplatz, 11. Oktober 1962: Ausgehend vom Apostolischen Palast ziehen 2500 Konzilsväter – gehüllt in ihre Rauchmäntel und mit Mitren auf dem Kopf – am Obelisken vorbei in Richtung Petersdom, der in den Wochen zuvor zur Konzilsaula umfunktioniert worden war. Am Ende der Prozession wird Papst Johannes XXIII. (1958–1962) unter einem Baldachin auf seiner „Sedia gestatoria” sitzend zum Hauptportal der Basilika getragen. Dort steigt er von seinem päpstlichen Tragesessel herab, um mit den Konzilsvätern auf Augenhöhe zum Petrusgrab ziehen zu können. Eine kleine Sensation. Direkt vor dem Papstaltar eröffnet der Pontifex feierlich das Zweite Vatikanisches Konzil (1962–1965), das als 21. Ökumenisches Konzil in die Geschichte eingehen sollte, und hält seine programmatische Eröffnungsansprache „Gaudet Mater Ecclesia”, zu Deutsch: „Es freut sich die Mutter Kirche”.

Mit Beginn des Wintersemesters 2022/23 jährt sich zum sechzigsten Mal die Konzilseröffnung. Welche Intention verfolgte Johannes XXIII. überhaupt mit der Einberufung des Konzils? Was kann man unter den vom Papst geprägten Schlagwörtern „Aggiornamento” oder den „Zeichen der Zeit” verstehen? Wie wurde das Konzil vorbereitet? Welche Themen kamen auf die Tagesordnung und welche wurden schließlich behandelt? Wer waren neben den beiden Päpsten Johannes XXIII. und Paul VI. (1963–1978) die Akteure des Konzils? Wo verliefen Konflikt- und Streitlinien? Gab es möglicherweise Parteiungen? Wie nahm die Öffentlichkeit das Konzil wahr? Diesen und vielen weiteren Fragen werden wir in unserem Hauptseminar historisch-kritisch auf den Grund gehen. Dabei nehmen wir nicht nur das Konzil selbst, sondern auch die Vorkonzilszeit (u.a. Pontifikat Pius XII., ökumenische Bewegung, liturgische Bewegung, Théologie nouvelle etc.), die unmittelbare Vorbereitung, aber auch die Rezeption des Konzils in den Blick. In kirchenhistorischer Manier ziehen wir hierfür unterschiedliche Quellengattungen heran: die Konzilsdokumente selbst, aber auch deren Entwürfe, anhand derer wir einen Blick in die Schreibwerkstatt des Konzils werfen, päpstliche Ansprachen oder Konzilstagebücher. Ausführlich beschäftigen wir uns mit den bahnbrechenden, berühmten und theologisch bedeutenden Konzilstexten, wie etwa der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes”, der Kirchenkonstitution „Lumen gentium”, der Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae”, oder der Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate”. Aber auch eher unbekannte Aspekte des Zweiten Vatikanum sollen beleuchtet werden: die Frauen und das Konzil, der Katakombenpakt oder die „Bar Jona, die hochfrequentierte Kaffeebar im Petersdom. Ich lade Sie herzlich zu einer Zeitreise durch das Zweite Vatikanische Konzil ein!

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2022/23