Das Annehmen ist ein intentionaler Akt der Betrachtung von propositionalen Gehalten. In argumentativer Herangehensweise ist man oft eingeladen, Propositionen zu akzeptieren, mit dem Ziel, dessen Folgen abzuleiten bzw. eine andere Proposition zu bestimmen. „Nimmt man an, dass p und q, dann“ oder „Wenn p, dann q oder r“ sind übliche sprachliche Ausdrücke von Akten des Annehmens.

In seinem Werk „Über Annahme“1 argumentiert der Philosoph Alexius Meinong (1853-1920) contra Franz Brentano (1838-1917) dafür, dass die Annahmen besondere Arte von intentionalen Akten sind. Wenn, laut Brentano, Vorstellungen, Urteile und Gefühle die Arten von „auf etwas gerichtet sein“ ausschöpfen, bestreit Meinong, dass die Annahmen weder in die Klasse der Vorstellungen noch in diejenige der Urteile fallen. Besonders wichtig ist der Unterschied zwischen Urteilen und Annehmen: Wenn das Urteilen das Element der Überzeugung notwendigerweise einbehält, bringt das Annehmen keine Überzeugung mit sich. Wenn es nicht so wäre, könnten Annahmen nicht die Funktion erfüllen, andere Propositionen zu bestimmen. Es folgt daraus, dass, obwohl Annahmen und Urteile aufgrund ihrer sprachlichen Ausdrucke nicht unterschieden werden können, wir sie psychologisch unterscheiden sollen. „Claire ist eine Philosophin“ kann sowohl ein Urteil (ich behaupte, dass sie eine Philosophin ist) als auch eine Annahme sein (ich überlege kontrafaktisch, dass Claire, eine berühmte Mathematikerin, auch Philosophie hätte studieren können), obwohl der sprachliche Ausdruck „Claire ist eine Philosophin“ in beiden Fällen unverändert bleibt. Das Annehmen fügt eine gewisse Freiheit in Denken ein, die uns ermöglicht, auf Objekte gerichtet zu sein und über diese überlegen zu können, obwohl wir deren Existenz oder deren Bestimmung nicht überzeugt sein. Ich bin nicht überzeugt, dass Claire eine Philosophin ist, weil ich weiß, dass sie eine Mathematikerin ist; wenn ich sage, dass Claire eine Philosophin ist, tue ich als ob sie eine Philosophin wäre.

Ziel des Seminars ist es, zu verstehen, warum Meinong denkt, dass der Unterschied zwischen Urteilen und Annehmen notwendig ist, um Mentalphänomene zu erklären, wie das Einfühlen in andere Personen; das Nachdenken über nicht-existierende oder unmögliche Objekte, wie z.B. Werte in der Ethik (Werte sind keine physische Objekte, aber wir reden von denen, als ob sie wirklich sind). Die enge Verbindung zwischen Meinongs Theorie der Annahme und seine Objektstheorie werden wir im Seminar schildern. Weiteres Ziel des Seminars ist nicht nur, anhand der Lektüre des Werkes Meinongs sich eines zentralen Themas anzunähern, wie es innerhalb einer der wichtigsten philosophischen Schule des 20 Jh., die von Brentano initiierte Phänomenologie, betrachtet wurde. Auch der Philosoph Bertrand Russell (1872-1970) setzt sich mit den Theorien Meinongs auseinander und die Diskussion beeinflusst die analytische Tradition stark. Darüber hinaus zeigt sich die Arbeit von Meinong durch eine fruchtbare philosophische Methode aus, die nähre Betrachtung verlangt. Wie Russell von Meinongs Methode schreibt: „although empiricism as a philosophy does not appear to be tenable, there is an empirical manner of investigating, which should be applied in every subject-matter. This is possessed in a very perfect form by the works we are considering.”2

 

1 Meinong, A ([1902] 1910) Über Annahme, Leipzig 1902; 1910 (der Text wird als PDF zur Verfügung gestellt).

2 Russell, B., Meinong’s Theory of Complexes and Assumptions, Mind 13/50 (1904): 204-19.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2022/23