„Tugend“ – dieser Begriff klingt heute wohl für viele Menschen verstaubt, altmodisch, nicht mehr zeitgemäß. Gleichzeitig mag ein Plädoyer für Bürger*innentugenden Furcht vor Bevormundung widmen, vor einem Staat, der mit erhobenem Zeigefinger „seine“ Bürger*innen zu besseren Menschen erziehen will. Braucht es Tugenden, genauer gesagt, Bürger*innentugenden, in modernen liberalen Demokratien denn überhaupt noch? Passen sie zur Idee der liberalen Demokratie und/oder in unser aktuelles gesellschaftliches Leben?

 

Tatsächlich prägte die Idee von Bürger*innentugenden und die mit ihr einhergehende Annahme der Relevanz individueller Charaktereigenschaften für das Wohl einer Gemeinschaft in Form der auf Aristoteles zurückgehenden Tugentethik die politische Philosophie viele Jahrhunderte lang. Dennoch verlor sie aus verschiedenen Gründen zunächst an Bedeutung (für die meisten, jedoch nicht alle Demokratietheorien), bevor es in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer „Renaissance“ der Tugendethik kam.

 

Die wechselvolle Geschichte der Idee der Bürger*innentugenden erklärt sich nicht zuletzt aus ihrer Komplexität und Kontroversität. Was genau ist eine „Tugend“? Ist es tatsächlich wichtig und wünschenswert, dass Bürger*innen eines Gemeinwesens über bestimmte Tugenden verfügen? Wenn ja: über welche? Und wer entscheidet das? Darf ein Staat von seinen Bürger*innen Tugendhaftigkeit fordern, sie dazu erziehen und anleiten? Oder würde dies eine unzeitgemäße Bevormundung darstellen? Wenn wir Gesetze haben, (wozu) braucht es noch Tugenden?

 

Die gemeinsame Auseinandersetzung mit diesen Fragen auf Basis ausgewählter Texte ist Ziel dieses Kurses. Über die Lektüre erschließen die Teilnehmer*innen sich im Verlaufe des Kurses ein Verständnis davon, wie sie unter unterschiedlichen historischen Rahmenbedingungen und von verschiedenen Demokratietheorien beantwortet werden, darüber hinaus werden sie in die Lage versetzt, begründete eigene Positionen zu entwickeln.

 

Ein thematischer Schwerpunkt liegt in der zweiten Hälfte des Kurses auf der Rolle von Bürger*innentugenden für Beteiligungsverfahren, insbesondere im Kontext Nachhaltigkeit.

 

 

Organisatorisches: Sitzungen finden in 14tägigem Abstand Mittwoch zwischen 12 Uhr und 14 Uhr statt. In der Zeit zwischen den Präsenzsitzungen ist umfangreiche Textarbeit zu leisten.

 

Leistungsanforderungen: In Vorbereitung auf die Seminarsitzungen sind Texte zu lesen und Aufgaben zu den Texten zu beantworten. Da es sich um einen Lektürekurs handelt müssen Studierende mit einer größeren Textmenge als in einem Standardkurs rechnen.

 

Studien- und Prüfungsleistung: Die Studienleistung besteht in Lerntagebuch. Für das Lerntagebuch sind semesterbegleitend Fragen/Aufgaben schriftlich zu beantworten/zu erledigen. Die Prüfungsleistung besteht in einer Hausarbeit nach Maßgabe der Prüfungsordnung.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2022/23