Das Denken der Geschlechterdifferenz bezeichnete Luce Irigaray als die Aufgabe der Philosophie unserer Epoche. Demzufolge gelte die Geschlechtlichkeit als der blinde Fleck einer Zivilisation, die in ihrer patriarchalischen Logik die Differenz verdrängt, bloß um von ihr unablässig heimgesucht zu werden. Eine Dekonstruktion der europäischen Philosophiegeschichte ‒ wie sie Irigaray ausführte ‒ verrät das untergründige Agieren von geschlechtlichen Kategorien in allen Kulturkonstrukten: vom grammatikalischen Gerüst der Sprache bis zur Semantik der sinnlichen Wahrnehmung. Jeder Diskurs, sei er religiöser, wissenschatlicher oder politischer Natur, entlarvt sich dann als geschlechtlich geprägt: Überall wird ein ungedachter Bezug zur Sexualität aufgedeckt, der das Eine bevorzugt und das Andere (viele Andere, müsste man heute ergänzen) entwertet. Von der Differenz ausgehend und in ihr verbleibend lassen sich hingegen neue Spielräume der Kultur erschließen, in denen Unterscheidungen nicht mehr zur Ausgrenzung und Unterdrückung führen, sondern zur partizipativen Stiftung einer pluralen, polymorphen Welt. Als Textgrundlage für das Seminar dienen die Vorlesungen, die Luce Irigaray 1982 an der Erasmus‑Universität Rotterdam hielt und die sie später unter dem Titel Ethik der sexuellen Differenz veröffentlichte.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2022/23