Welche Bedingungen muss ein Wesen erfüllen, um für sein Verhalten verantwortlich zu sein? Unstrittig ist, dass es einen Willen haben muss. Deswegen ist nicht der Revolver verantwortlich, wenn jemand damit erschossen wird. Unstrittig ist auch, dass es über eine gewisse Einsichtsfähigkeit verfügen muss: Es muss um die relevanten Eigenschaften (z.B. um die Folgen) seiner Handlungen wissen können. Deswegen ist auch das Kleinkind, das den herumliegenden Revolver des Onkels findet, ihn willentlich auf seine Tante richtet und diese tötet, nicht verantwortlich. Wollen und Wissen hängen bei erwachsenen Menschen eng zusammen; wir beabsichtigen unsere Handlungen immer „unter bestimmten Beschreibungen“. Die Schauspielerin, die in einer Bühnenszene den geliebten Kollegen tötet, weil die in den vorherigen Vorstellungen eingesetzte Spielzeugwaffe durch den eifersüchtigen Requisiteur gegen einen echten Revolver ausgetauscht wurde, wollte zwar den Hahn des Revolvers abdrücken, aber sie wollte sicher nicht ihren geliebten Freund erschießen. (Da sie nicht wissen konnte, dass das Abdrücken des Revolvers zugleich das Erschießen ihre Freundes war, war sie nicht verantwortlich.)

Viele Philosophinnen und Philosophen meinen, dass eine weitere Voraussetzung für Verantwortung Willensfreiheit ist.  Man müsse die Tat, für die man verantwortlich ist, nicht nur gewollt haben, sondern der eigene Wille müsse dabei frei gewesen sein. Der Requisiteur ist für den Tod des Nebenbuhlers verantwortlich, sofern er die Entscheidung zu seiner Tat (den Austausch der Waffe) aus eigenem freiem Willen getroffen hat.

Was es genau bedeutet, sich aus eigenem freien Willen zu einer Handlung zu entscheiden, ist philosophisch allerdings höchst umstritten. Ein Vorschlag lautet: Frei und verantwortlich ist ein Wesen, dessen Wille autonom ist. Ein zweiter Vorschlag lautet: Frei und somit verantwortlich ist ein Wesen, das sich an normativen Überlegungen orientiert. Nur Wesen mit moralischen Kompetenzen können diesem zweiten Vorschlag nach verantwortlich sein für das, was sie tun.

Im Seminar soll dieser zweite Vorschlag im Mittelpunkt stehen. Neben den Überlegungen, die grundsätzlich dafür angeführt wurden, wollen wir uns der Frage widmen, welche Art von moralischer Kompetenz für Freiheit und Verantwortung erforderlich ist. Genügt es, dass man irgendein System persönlicher moralischer Werte ausgebildet hat, mit dem die eigenen Absichten im Einklang stehen – dass man also gewissermaßen „hinter dem steht“, was man will? Oder müssen wir überdies annehmen, dass die persönlichen Werte auch wahre Werte sind? Dieser Frage kommt große Bedeutung zu, wenn wir auf Menschen treffen, die im Einklang mit ihrem eigenen Wertesystem Unrecht begehen. Vielleicht erkennt der Requisiteur in sich ausschließlich das Opfer einer Zurückweisung, die ihn verletzt, und hält sich selbst für berechtigt, den Nebenbuhler und die Schauspielerin auf diese Weise zu bestrafen. Mindert seine Befangenheit in einem absurd egozentrischen Wertesystem seine persönliche Verantwortung? Wie beurteilen wir die Befangenheit in falschen sozialen oder politischen Wertesystemen, in denen Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Umfelds und ihrer Erziehung verankert sind? Mindert auch dies die persönliche Verantwortung?

Wir werden uns im Seminar von Susan Wolf durch die Debatte führen lassen, aber auch die von ihr kritisierten Positionen zu Wort kommen lassen. Die genaue Literaturauswahl wird zu Seminarbeginn bekannt gegeben.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2022/23