Das »Interpretative Paradigma« erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Neben einer Vielzahl von Einführungsbüchern steht hoch im Kurs, empirische Forschungsvorhaben »qualitativ« aufzustellen (z.B. im Rahmen von Abschlussarbeiten). Zumeist soll damit eine Abgrenzung gegenüber »quantitativ-statistischen« Erhebun-gen und Auswertungen angezeigt markiert werden und - je nach Zugang - die Leistungen der Akteure als sinnstiftende Einheiten im Handeln in den Vordergrund gerückt werden. Was es »konkret« bedeutet, eine Vorladung zu einem Gerichtstermin zugestellt zu bekommen, lässt sich nicht durch eine Rekonstruktion der ethi-schen Einstellungen entsprechender Bürgerpflichten (Staatsräson) ableiten. Was es »konkret« bedeutet, in der U-Bahn in die Lage zu geraten, angestarrt zu werden, lässt sich nicht aus den formalen, unausgesprochenen Regeln der Sitzplatzverteilung (z.B. größtmögliche Distanz) bestimmen.

In diesem Sinne fällt die Hinwendung zu Angeboten der qualitativen Sozialforschung bisweilen zusammen mit politisch ambitionierten Versuchen, Stereotype abzubauen, Vorurteile zu unterlaufen usw. In der methodologischen Diskussion schlägt die Skepsis gegen die Abhebungen der handlungsleitenden Sinnressourcen durch die soziologische Handlungstheorie an dieser Stelle bisweilen in eine ähnliche Kerbe. Dabei ist die Frage, wie das Verhältnis von abstrakten Vorgaben des Handelns und deren konkreten »Anwendungen« keineswegs dadurch erledigt, dass es eben auch Modellierungen der Handlungserklärung gibt, die dieses »Anwenden« zu grob zeichnen und z.B. zu stark auf Homogenität der Hintergrunds-Erwartungen abstützen. Wenn es am Ende in einem trivialen Sinne darauf ankommt, was die Personen, die an entsprechenden Handlungssequenzen beteiligt sind, ausmachen, mitbringen etc., scheint sich jeder Anspruch auf eine gehaltvolle Analyse mit Bezug auf gesellschaftliche Differenzierung in einer Verlegenheitslösung zu verflüchtigen.

Zur Klärung dieser verzwickten Lage soll problemorientiert vorgegangen werden. Erstens soll bearbeitet wer-den: Worin besteht überhaupt der intern-sachliche Bezug, sich dem »interpretativen Paradigma« zuzuwenden. Und wieso überhaupt »Paradigma«? Zweitens soll markiert werden, dass die Frage, wie Handeln und Handlungen erklärt werden können, wesentlich davon abhängt, wie mit den erheblichen Abweichungen zwi-schen Bezugskontexten (Personen, »Praktiken«, Systeme) umgegangen wird bzw. heuristisch überhaupt umgegangen werden kann.

Als Teilnehmer sollten Sie auf der Basis dessen nach der erfolgreichen Teilnahme am Kurs in der Lage sein, in Form einer schriftlichen Ausarbeitung beschreiben zu können, was die Bearbeitung eines (selbst gewählten) Untersuchungsgegenstands mit einem gewählten Erhebungs- und Auswertungsverfahren mit sich bringt und mit welchen Zugeständnissen (an den Untersuchungsgegenstand) diese Entscheidung einhergeht.

Literatur wird zu Beginn der ersten Sitzung bekannt gegeben.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2022/23