Im 19. und 20. Jh. entwickelten sich politische Bewegungen, die mit dem Anspruch antraten, die gesamte Gesellschaft prägen und einen "neuen Menschen" schaffen zu wollen. Der Kommunismus versprach eine klassenlose Gesellschaft, in der man von der Unterdrückung durch die höheren Klassen erlöst wäre: der Weg dorthin sei u.a. über Revolutionen erreichbar. Der Nationalsozialismus verband seinen biologistischen Rassismus mit einer religiösen Rhetorik ("Das tausendjährige Reich" - Millenarismus), obwohl die Ziele rein diesseitige waren. Eric Voegelin erkannte in solchen Ideologien den Wunsch nach Erlösung am Werk, der historisch nie verdrängt werden konnte: zu tief habe er sich in die Kulturgeschichte eingegraben. Eine säku-lare Gesellschaft halte es nicht lange ohne ein höheres Ziel aus, das an die Stelle jenseitiger Heilserwartun-gen trete. Um moderne Bewegungen verstehen zu können, die - wie manche Religionen - die Welt in Gut und Böse einteilen, sei ein Verständnis vormodernen gnostischen und apokalyptischen Gedankenguts unumgänglich. Dabei hilft ein Blick auf vormoderne Imperien und existentialistische Probleme, wie z. B. den Umgang mit der eigenen Endlichkeit. Unabhängig davon, wie man zur These Voegelins steht, ist die Dis-kussion, die er verursacht hat, fruchtbar für die Forschung, da sie religionssoziologische, philosophische und politikwissenschaftliche Ideen von Geschichte und Gesellschaft zueinander in Beziehung setzt. Daher werden wir im Seminar sowohl Voegelins "Die politischen Religionen"(1936/1996) als auch eine Auswahl seiner Kritiker und Rezipienten lesen und diskutieren. Zudem wollen wir neuere Gruppen betrachten, die religiöse und politische Ansprüche miteinander verbinden.

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2022