Was ist Bildung und welche Rolle spielt Bildung in der Erziehung des Menschen? Das sind die zentralen Kern­fra­gen sowohl der tradierten Bildungsphilosophie als auch der in den letzten 80 Jahren (vornehmlich im eng­li­schen Sprachraum) entstandenen Philosophy of Education. In diesem Seminar möchte ich diese Kernfragen an­­hand von drei klassischen, philosophiehistorisch einflussreichen Texten diskutieren. Alle drei Texte kann man als mittlerweile kanonisiert betrachten. Allerdings teilen sie das Schicksal vieler kanonischer Texte: Sie wer­den weitaus häufiger zitiert und auch plagiiert als wirklich gelesen und diskutiert. Ein Ziel des Seminars be­steht darin, dies zu ändern. Eine synoptische Zusammenschau dieser Texte ist dabei aus mehreren Gründen phi­lo­so­phisch reizvoll.

Erstens stammen diese Texte aus derselben Zeit, zu der wir heute schon wieder einen gewissen historischen Ab­stand haben: Alle sind zwischen 1958 und 1960 publiziert worden. Einleitend werde ich deshalb einiges zum his­torischen Hintergrund und zum Entstehungszusammenhang sagen. Wir werden uns dann gemeinsam erar­bei­ten, wie man zu dieser Zeit philosophisch über Erziehung und Bildung nachdachte und wie wir uns aus heutiger Pers­pektive dazu stellen.

Zweitens ist festzustellen: Obwohl die drei Autoren zur selben Zeit über Bildung und Erziehung nachdachten, nehmen sie an keiner Stelle aufeinander Bezug. Dies liegt daran, dass sie aus philosophischen Traditionen stam­men, die damals kaum Berührungspunkte zueinander aufwiesen. Wolfgang Klafki (1927–2016) steht in der Tradition der Bildungsphilosophie und der geisteswissenschaftlichen Pädagogik des 19. Jahrhunderts, Theodor W. Adorno (1903-1969) ist einer der prominenten Exponenten der gleichermaßen von Sigmund Freud und von Karl Marx inspirierten Frankfurter Schule und Israel Scheffler (1923–2014) ist ein ebenso prominenter Ver­treter der sprachanalytischen Philosophie, die damals in den USA bereits etabliert war. Eine synoptische Zu­sammenschau dieser Text macht der/dem Leser:in deutlich, wie stark sich verschiedene philosophische Tra­di­tionen in ihrer Perspektive auf die Themen Bildung und Erziehung unterscheiden. Nur, wenn man diese Unterschiede kennt, kann man vermeiden, tradierte Deutungsmuster unkritisch in seine eigenen Sichtweisen auf Bil­dung und Erziehung zu übernehmen.

Voraussetzung für die Teilnahme ist die Bereitschaft zur Lektüre anspruchsvoller Texte und ein Interesse an der vertieften Diskussion bildungsphilosophischer Gehalte.   

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2022