Erkenntnisse zu gewinnen ist eines der wichtigsten Anliegen nicht nur der Philosophie, sondern aller Wissenschaften. Sokrates nahm an, dass Erkenntnismängel damit zusammenhängen, dass man sich über sich selbst täuscht: Denn wer sich irrt oder voreilig urteilt, schreibt ja sich selbst ein Wissen zu, das er gar nicht besitzt. Wer nach Erkenntnis strebt (oder sie, wie die Philosophen, sogar liebt), für den sind Irrtümer und die damit einhergehende Selbsttäuschung etwas, was ihm zwar zustoßen kann, was er aber lieber vermeiden würde.

Gar nicht so selten begegnet man aber auch Menschen, die sich geradezu an falsche Ansichten klammern. Diese Menschen, so kommt es uns vor, täuschen sich aktiv selbst. Sie verschließen ihre Augen vor einer Wahrheit, die sie zumindest zu ahnen scheinen. Anders als den unfreiwilligen Irrtum (und die damit verbundene passive Selbsttäuschung) kritisieren wir diese aktive Selbsttäuschung regelmäßig auch moralisch, und zwar ganz unabhängig davon, ob die sich aktiv selbst Täuschenden auch andere Menschen belügen (was sie fast immer tun, bis hin zum absurden Leugnen des für alle Offensichtlichen).

 

So verbreitet das Phänomen der Selbsttäuschung auch sein mag, aus philosophischer Sicht ist es ein Rätsel: Eine Täuschung setzt begrifflich voraus, dass es jemanden gibt, der die Wahrheit kennt, und einen anderen, dem sie vorenthalten wird. Mich selbst zu täuschen, würde bedeuten, dass ich die Wahrheit kenne und zugleich nicht kenne. Die Philosophie steht angesichts dieser Paradoxie vor der Aufgabe, den Begriff der Selbsttäuschung so zu explizieren, dass sie dem Phänomen gerecht wird, ohne in Selbstwidersprüche zu führen. In ethischer Hinsicht muss sie die Frage klären, welche Motive hinter der Selbsttäuschung stehen, ob die sich selbst täuschende Person dafür verantwortlich ist, und welche Ideale, Werte oder Tugenden wir dadurch verletzt sehen – warum es also schlecht sein soll, sich selbst etwas vorzumachen. Im Seminar werden wir verschiedene Ansätze sowohl zur Klärung des Begriffs wie auch zur moralischen Bewertung des Phänomens der Selbsttäuschung kennenlernen und besprechen. Die genaue Textauswahl wird zu Beginn der Veranstaltung bekannt gegeben.

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2022