Mit seiner Kritik der reinen Vernunft (KrV) revolutioniert Kant den erkenntnistheoretischen Diskurs des 18. Jahrhundert. Die Erkenntnis der Phänomene stammt aus der Erfahrung und wird von den transzendentalen Strukturen jedes erkennenden Subjekts gesichert. Durch seine transzendentalen Strukturen beteiligt sich das Subjekt aktiv an der Konstitution der Phänomene und wird deshalb die Erkenntnis derselben ermöglicht. Kants Transzendentallogik entfaltet sich durch ein komplexes System der Vermögen, nach dem die Sinnlichkeit und der Verstand durch einigen transzendentalen Strukturen operieren: Die reine Forme der Intuition (Raum und Zeit), einerseits, und die Kategorien, anderseits. Das Vermögen der Urteilskraft wird im zweiten Buch der transzendentalen Analytik, die Analytik der Grundsätze, explizit betrachtet. „Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist die Urteilskraft das Vermögen, unter regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regeln (casus datae legis) stehe, oder nicht“ (KrV B 172/A 133). Die Urteilskraft ist deshalb für das Projekt einer transzendentalen Logik relevant, weil sie zur Konstitution der Phänomene beiträgt, insofern sie die Anwendung der Verstandesbegriffe auf das Material der Sinnlichkeit vermittelt. Betrachtet wird sie in KrV, insofern die „Analytik der Grundsätze demnach lediglich ein Kanon für die Urteilkraft sein wird, der sie lehrt, die Verstandesbegriffe, welche Bedingung zu Regeln a priori enthalten, auf Erscheinungen anzuwenden“ (KrV B 172/ A 133).

Die Doktrin der Urteilkraft in KrV erschöpft Kants Analyse dieses Vermögens nicht, deshalb publiziert Kant in 1790 die „Dritte Kritik“, die Kritik der Urteilskraft (KU), in der Kant zwar eine ausführlichere Betrachtung dieses Vermögens darbietet, Betrachtung die ohnehin Auslegungsprobleme aufweist. Ein erstes Problem betrifft die Heterogenität der Bereiche, in denen dieses Vermögen eine Rolle spielt: Von Kategorisierung in Art und Gattung zur Systematizität in den Wissenschaften; von ästhetischen Urteilen betreffend das Schön und das Sublim zu den teleologischen Urteilen in den Wissenschaften. Alle diese Urteilungsforme stammen von der reflektiven Anwendung dieses Vermögens, sagt uns Kant in der Einleitung zu KU, Anwendung die sich von der bestimmenden Funktion desselben Vermögens unterscheidet und die er in der Doktrin der Urteilskraft der KrV untersuchte. 

Das Seminar geht der Frage nach dem Verhältnis und dem Unterschied zwischen bestimmender und reflektierender Funktion der Urteilkraft nach. Anschließend einer ersten Einführung in die für unser Thema relevanten Teilen der KrV (erste Sitzung), wird die Einleitung zu KU gelesen (drei Sitzungen) und die reflektierende Funktion anhand Kants Ästhetik des Schönes und des Erhabenes erforscht (sechs Sitzungen). Zum Schluss wird die Frage nach einer einheitlichen Theorie der Urteilskraft gestellt.

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2022