Berlin entwickelt sich während der Weimarer Republik zu einer Metropole der kulturellen und gesellschaftlichen Großstadtmoderne, die neue ästhetische Erfahrungen (u.a. Beschleunigung, Simultaneität, Heterogenität) vor allem über das Leitmedium der ‚neuen visuellen Kultur‘ (Béla Balázs), den Film zwischen Stummfilm- und der beginnenden Tonfilmära, reflektierte. So entstanden, anknüpfend an Expressionismus und Flaneurliteratur, nicht nur neue literarische Formen (wie Großstadtgedichte und -romane, Feuilletons und Reportagen), sondern auch Großstadtfilme – und prominent: das (internationale) Genre der filmischen ‚Stadtsinfonien‘. Das Seminar möchte diese Filme im Kontext der Medienkultur der 1920er Jahre sichten und diskutieren. Auf dem Programm stehen u.a.: STADT DER MILLIONEN (D 1925, Adolf Trotz), DIE LETZTE DROSCHKE VON BERLIN (D 1926, Carl Boese), BERLIN – DIE SINFONIE DER GROßSTADT (D 1927, Walter Ruttmann), MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK (D 1929, R: Phil Jutzi), ZEITPROBLEME. WIE DER ARBEITER WOHNT (D 1930; R: Slatan Dudow; P. Jutzi), MENSCHEN AM SONNTAG (D 1930; R: Robert Siodmak/Edgar G. Ulmer), BERLIN – ALEXANDERPLATZ (D 1931; R: Phil Jutzi), KUHLE WAMPE ODER: WEM GEHÖRT DIE WELT? (D 1932; R: Slatan Dudow).

Vom kontemplativen Blick des die Großstadt durchstreifenden Flaneurs, wie ihn das ausgehende 19. Jahrhundert als Wahrnehmungsfigur konzipierte, ist dabei in der wahrgenommenen ‚Dynamik der Großstadt‘ (László Moholy-Nagy) wenig übrig geblieben: Der ‚moderne‘ Berlin-Tourist verschafft sich stattdessen mit Flugzeug (STADT DER MILLIONEN), Auto oder Straßenbahn (DIE LETZTE DROSCHKE VON BERLIN, DIE SINFONIE DER GROßSTADT) seinen Überblick. Filmische Stadtwahrnehmung folgt daher anderen Wahrnehmungskontinuitäten, erschließt sich neue urbane Arbeits- und Freizeiträume, richtet sich aus an Dispositiven wie der elektrischen Beleuchtung, der Dynamisierung des Verkehrs, aber auch prekärer sozialer Realitäten (WIE DER ARBEITER WOHNT).

Unter diesen Gesichtspunkten untersucht das Seminar u.a. folgende Fragen und Aspekte:
- Neue filmische Leitfiguren und mediale Figurationen der Berliner Großstadtmoderne,
- Raumdarstellung und -inszenierung,
- Inklusion/Exklusion: Gesellschaftsbild und Sozialkritik,
- filmische Ordnungs-, Inzenierungs- und Deutungsmuster der Stadtwahrnehmung,
- Wahrnehmungsdispositive: Rolle und Funktion kultureller Semantiken und Praktiken der Beschleunigung, Bewegung und Beleuchtung (Licht- und Schattendramaturgie).

Bitte vor Seminarbeginn die folgenden Filme anschaffen und sichten:

*DIE STADT DER MILLIONEN (Arte-Edition, mit dem Filmmuseum Potsdam), absolut Medien 2014 [ISBN 978-3-8488-3003-9],
*BERLIN – DIE SINFONIE DER GROßSTADT (Edition Filmmuseum 39), film & kunst 2009 [= Doppel-DVD, zus. mit MELODIE DER WELT],
*MENSCHEN AM SONNTAG (Doppel-DVD, restaurierte Fassung, Deutsche Kinemathek 2014), Atlas Film 2018 [Bestell-Nr. 6418813].

Kurs im HIS-LSF

Semester: WT 2021/22
ePortfolio: No