Die Fälschung eines Bildes von van Gogh oder Vermeer, von Ausweisen oder Geldscheinen, die Plagiierung wis­senschaftlicher oder literarischer Texte, der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden, die Bearbeitung oder Rekombination klassischer Aufnahmen der Rock- und Popmusik (edits oder mashups), die Di­gi­talisierung von bildenden Kunstwerken und deren Fälschungssicherung mittels Blockchain-Technologie – all diese Dinge haben zweierlei gemeinsam: Erstens ist ihre Herstellung zuweilen so umstritten, dass sie nicht nur auf Jahre hin­aus Gerichte beschäftigen, sondern zudem kontroverse und emotional geführte Feuille­ton­de­batten anstoßen. Zwei­tens verdanken all diese Dinge ihre Anfertigung der Tätigkeit des Kopierens: eines Aktes der Repro­duk­tion, Imitation oder Replikation eines Originals oder einer Vorlage.

Zwar ermöglichen die Fortschritte der – insbesondere: der digitalen – Reproduktionstechniken das Anfertigen von Kopien in den letzten Jahrzehnten mit immer größerer Perfektion und immer geringerem Aufwand. Kopie­ren ist aber keineswegs eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Womöglich kann man dieser Tätigkeit sogar den Status einer anthropologischen Konstante zusprechen: Jegliches Lernen und alle sozialen Interaktionen setzen Fähigkeiten zur Repräsentation und zur Imitation der Aktivitäten und Vorstellungen anderer voraus. Schon das Kleinkind erlernt grundlegende Verhaltens- und Reaktionsmuster durch das Kopieren des Verhaltens seiner Eltern. Das Erlernen der Schriftsprache in der Schule ist nicht möglich ohne das Einüben der richtigen Schrei­bung von Buchstaben, Wörtern und Sätzen – durch nichts anderes also als durch das Kopieren geeigneter Vor­la­gen. Der freie Zugang zu kulturellen Erzeugnissen und Erfindungen ist deshalb eine grundlegende Voraus­set­zung für die freie geistige Entwicklung menschlicher Individuen.

Vor diesem Hintergrund werden wir uns im Seminar mit der Frage auseinandersetzen, aus welchen Gründen diese unverzichtbare Kulturtätigkeit manchmal moralisch fragwürdig (wie manche Akte des Kopierens), mo­ra­lisch verboten (wie z. B. das Plagiieren) oder auch illegal ist (wie z. B. das Fälschen). Dabei soll nicht die mitt­lerweile unüberschaubare juridische Fachliteratur zu Urheberrecht und Copyright im Mittelpunkt stehen, son­dern primär Texte, die dieses Konflikt­feld aus einer philosophischen Perspektive problematisieren. Hierzu gibt es in jüngerer Vergangenheit eine umfangreiche Debatte (s. für einen Überblick: Hick & Schmücker 2016), die al­lerdings ihre Vorläufer in der Phi­lo­sophiegeschichte hat – so z. B. eine Kontroverse um die Legitimität des Bü­chernachdrucks am Ende des 18. Jahrhunderts, an der sich auch Immanuel Kant (1785) und Johann Gottlieb Fichte (1793) beteiligt haben. Im Seminar werden wir diesen klassischen Positionen aktuelle Texte ver­glei­chend gegenüberstellen.

In der ersten Sitzung werden wir Andrew Forcehimes’ Verteidigung des Diebstahls von Ebooks diskutieren (Forcehimes 2013); diesen Text stelle ich Ihnen via Learnweb als digitale Kopie zur Verfügung. Ich bitte alle Teilnehmenden, diesen kurzen Text gründlich vorzubereiten.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2021/22
ePortfolio: Nein