Leo Perutz erblickte im Jahr 1882 in Prag die Welt, siedelte 1901 mit seiner Familie nach Wien über, von wo aus er, ein sephardischer Jude, nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs im Jahr 1938 nach Palästina fliehen musste. In Perutz’ Lebensweg verbindet sich das schon an sich transnationale säkulare Judentum mit der kulturellen Mannigfaltigkeit der beiden Metropolen der Moderne, Prag und Wien, die vor allem auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Begegnungsräume und Umschlagplätze ost-, mittel- und westeuropäischer Denk- und Kunsttraditionen waren. Obwohl Perutz vergleichsweise alt wurde, erstreckte sich seine fruchtbarste Schaffensperiode auf lediglich 13 Jahre: 1915 veröffentlichte er seinen ersten Roman „Die dritte Kugel“, 1928 bereits seinen achten („Wohin rollst du, Äpfelchen …“) – jeder von ihnen ein Publikumserfolg. Der Tod seiner Frau Ida im Jahr 1928 stürzte ihn in eine tiefe Lebenskrise, die Flucht vor den Nationalsozialisten beendete sein Schaffen endgültig. Der einst gefeierte Bestseller-Autor wurde im Exil zu einem, wie er es selbst ausdrückte, „forgotten writer“, der „der Welt abhanden gekommen“ ist. Im Jahr 1953, kurz vor seinem Lebensende und beinahe 20 Jahre nach seiner letzten Publikation, veröffentlichte er seinen allerletzten Roman, der vielen als sein großes Meisterwerk gilt: „Nachts unter der steinernen Brücke. Ein Roman aus dem alten Prag“. Dieser stieß zwar auf Begeisterung, aber konnte – ein letzter Schicksalsschlag – aufgrund der Insolvenz des Verlags nicht vertrieben werden.
Erst in den 1980ern erlebte Perutz’ Werk vor allem durch die Bemühungen des Germanisten Hans-Harald Müller eine kleine Renaissance, wenngleich es noch bis heute ein Schattendasein fristet. Ein Grund dafür ist merkwürdigerweise seine Unterhaltsamkeit. Perutz’ Romane sind kurz und kurzweilig, spannend, handlungs- und wendungsreich und damit einer großen Leserschaft leicht zugänglich. Das sind aber gerade alles Eigenschaften, die sich mit der nach wie vor verbreiteten elitären Vorstellung von einer ‚ernsten‘ und erst dadurch untersuchungswürdigen Höhenkammliteratur nicht vertragen. Dieser oberflächliche Blick verkennt aber, dass Perutz’ Romane mindestens doppelschichtig sind: Hinter der unterhaltsamen Oberfläche, die man ganz nebenbei bei einer flüchtigen Lektüre genießen kann, verbergen sich hochkomplexe Konstrukte, in denen (Erzähl-)Form und Inhalt wie die Komponenten eines diffizilen Uhrwerks auf intrikate Weise ineinandergreifen.
Das Seminar setzt es sich zum Ziel, das Werk dieses sträflich vernachlässigten Erzählmeisters zu erschließen und diese seine erzählerischen ‚Uhrwerke‘ mithilfe narratologischen Analysewerkzeugs zu entschlüsseln. Indem wir uns dem vermeintlich schlichten Inhalt der Romane von ihrer komplexen Konstruktionsweise her nähern, schärfen wir zugleich auch das Bewusstsein für den bisweilen vergessenen unlösbaren Zusammenhang von Form und Inhalt. Voraussetzungen für die erfolgreiche Teilnahme sind ein zumindest grundlegendes Interesse an der Erzähltextanalyse und vor allem die Freude an der Lektüre.

Triggerwarnung: In den Romanen finden sich verstreut Darstellungen von Gewalt und Krieg, die jedoch relativ harmlos sind.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2021/22
ePortfolio: Nein