Das Verhältnis des Mittelalters zur Antike kann kaum anders denn als ambivalent bezeichnet werden. Einerseits galt die Antike mit ihren Dichtern und Philosophen, mit ihren Herrschern und Helden sowie mit ihren weithin berühmten Liebespaaren als kaum zu überschätzendes Vorbild; andererseits galt es doch auch, sich von der vorchristlichen heidnischen Welt grundlegend zu distanzieren. Ebendieses Spannungsfeld von Faszination und Abgrenzung hat denn auch zu reger Produktion geführt, nicht zuletzt in der höfischen Literatur. So wurde der Anschluss an die Antike durchaus gesucht, wurden ganze Stoffgebiete im sogenannten Antikenroman erschlossen oder einzelne Figuren und Motive in eigene Erzählungen integriert, um sie doch der eigenen Kultur und Vorstellungswelt anzupassen. Die produktive Auseinandersetzung mit dem Alten konnte nicht zuletzt der Standortbestimmung des Eigenen dienen, was nicht selten in einen Gestus auch der Überbietung führte. Der Bernhard von Chartres zugeschriebene Ausspruch, man sei wie Zwerge auf den Schultern von Riesen, mag das besondere Verhältnis vielleicht umreißen, sofern man zwar gegenüber der Größe der Antike selbst als Zwerg erscheinen würde, auf den Schultern sitzend doch über sie hinausragen und daher weiter sehen könne.

Das Seminar möchte anhand ausgewählter Beispiele aus der mittelalterlichen Literatur im Vergleich auch mit antiken Prätexten diesem speziellen Verhältnis nachgehen. Dabei sollen Strategien ermittelt werden, wie mit dem Erbe der Antike umgegangen wurde. In den Blick geraten dabei Themen von Heroik, Herrschaft und Liebe wie gleichermaßen prominente Figuren aus Mythologie und Historie, die ihre je eigene und mitunter neue Geschichte erhalten haben, in der mittelalterlichen Historiographie wie in der mittelhochdeutschen Epik oder Lyrik: so etwa Eneas oder Alexander der Große, Pygmalion oder Narziss, Paris und Helena oder Hero und Leander.

Voraussetzung für die Teilnahme am Seminar ist die Bereitschaft, sich aktiv im Rahmen von Arbeitsgruppen am Seminar zu beteiligen. Ein Reader mit Texten zum Seminar (Auszüge mittelhochdeutscher, teils einsprachiger Texte sowie Forschungsliteratur) wird zu Beginn des Semesters vorliegen. Das Seminar wird von einem eigenen Learnweb-Kurs begleitet, u. a. mit ergänzenden Texten zur Vor- und Nachbereitung. Informationen zum Kurs folgen in der ersten Sitzung des Seminars.

Kurs im HIS-LSF

Semester: ST 2021