Gerechtigkeit ist zumeist die Frage nach einer gerechten Verteilung der Güter in einer Gesellschaft oder eine Ausdeutung der These, dass Menschen gleichwertig sind. Vielleicht ist auch unser Verhältnis zur Natur – Biodiversität, Ökosystemschutz – ungerecht. Aber „Wissen“? Wissen scheint eher „wahr“ oder „wahrscheinlich“ zu sein (oder ein Gegenteil davon) und nicht „gerecht“! Die britische Philosophin Miranda Fricker entwickelt zwei epistemische Tugenden der Gerechtigkeit: Eine des Zeugnisgebens (testimonial justice) und eine der Wissenspraxis (hermenutical justice). Ihre Überlegungen gehören in den Bereich der sozialen Epistemologie. Eine Wissenspraxis kann ungerecht sein, weil es eine Lücke in den kollektiven und institutionalisierten Interpretationsressourcen gibt, die es unwahrscheinlich machen, wichtige Aspekte sozialen Erfahrung zu verstehen und zu kommunizieren. Im Geben und zur Kenntnis Nehmen von Zeugnissen kann die Glaubwürdigkeit von problematischen Stereotypen abhängen. Man glaubt Kindern, Frauen und Schwarzen weniger bereitwillig oder anders. Erfahrungen von Rassismus, sexuellem Missbrauch, Unterdrückung durch Armut, ... können an fehlender Offenheit der Öffentlichkeit, staatlicher Institutionen und der Wissenschaft abprallen. Testimonial injustice ist eine Art Blind- oder Taubheit des Subjekts. Hermeneutical injustice ist eine Art Starrsinnigkeit in der sozialen Anerkennungsbereitschaft. Es geht also um die psychische Dimension der Erkenntnistheorie, die „Wahrheit“ und „Wissenschaft“ zu Unrecht losgelöst von individueller und sozialer Wissensakquise zu denken behauptet. Daraus ergibt sich der moralische Imperativ des Buches „Epistemic Injustice“: Die Psychologie der individuellen und sozialen Wissensakquise ist verantwortlich für epistemische Intransparenzen, die erkenntnistheoretisch artikuliert werden müssen, wenn sie zu Recht als ungerecht gelten dürfen.
- Lehrende/r: Andreas Vieth