Antisemitismus funktioniert projektiv: Er sagt etwas, über das antisemitische Subjekt aus – nicht über Jüd*innen. Antisemitismus funktioniert als Welterklärung in unversöhnten Verhältnissen und ist darin Implikation gescheiterter Emanzipation, gerade in seinen modernen Gestalten: So sagt er etwas über die Welt, aus der er entspringt.

Darin ist Antisemitismus aber auch Folge der Weise, in der in der nichtjüdischen Welt das Judentum bzw. „das Jüdische“ imaginiert, aufgegriffen und abgelehnt wurde; gerade dort wo – wie im christlichen Bereich – das Eigene in Abgrenzung vom „Jüdischen“ bestimmt wurde und zusätzlich eine neue, definitive Wahrheit in Abgrenzung vom Judentum behauptet wurde, nimmt das (projektiv verarbeitete) „Jüdische“ leicht die Funktion einer Negativfolie an und stellt gleichzeitig so etwas wie ein schlechtes Gewissen dieser Kultur dar. So schleicht sich Antisemitismus oft dann ein, wenn ein Denken mit der Unversöhntheit gegebener Zustände paktiert, diese mystifiziert, in eine Verachtung des Weltlichen übergeht oder diesem eine abstrakte andere Realität entgegenstellt; wenn in einem Streben nach substantieller Identität die Aufgabe der Vermittlung der Dialektik zwischen Besonderem und Allgemeinen (Geist und Materie, Natur und Gesellschaft, Bedingtheit und Freiheit, konkret und abstrakt) aufgegeben bzw. einseitig aufgelöst wird; wenn eine Bejahung einer Gestalt von (erlösendem) „Opfer“ und „Selbstopfer“ stattfindet – alles Motive, die sich häufig wiederfinden lassen. Auf die Schliche antisemitischer Motive in philosophischem und christlich-theologischem Denken zu kommen heißt damit auch immer, deren eigene Unwahrheit aufzudecken. 

Das Seminar will, nachdem Mittel erarbeitet wurden, um einen reflektierten Begriff von Antisemitismus zu gewinnen, christlich-theologische Kategorien und das Denken einiger moderner und zeitgenössischer Philosophen auf die Anfälligkeit für antisemitische Denkmuster untersuchen. Im Ausgang wird die Frage gestellt, ob und unter welchen Bedingungen eine antisemitische Regression im Denken vermieden werden kann. Das Seminar hat ideengeschichtlichen und systematischen Charakter.

 

 

 

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2021