Wer sich dem Thema Religion im Mittelalter ohne Vorkenntnisse annähert, geht häufig von der abstrakten Vorstellung einer christlich-lateinischen 'Kirche' aus, die als hierarchische, die als hierarchische, vom Papsttum beherrschte und einheitliche 'Anstalt' erscheint. Richtet man den Blick stattdessen auf die gelebten Formen von Religiosität in unterschiedlichen mittelalterlichen Städten, so lassen sich gleich mehrere typische Vorurteile und Fehleinschätzungen aufklären: Grundsätzlich erweist sich mittelalterliche Religiosität als vielgestaltige und umstrittene 'gelebte Religion', in deren Aushandlung nicht nur Theologen und Bischöfe, sondern auch einfache Männer und Frauen aktiv wurden. Zweitens wird gerade an Phänomenen städtischer Religiosität deutlich, wie eng der Bereich der Religion mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Praktiken verknüpft war. Einerseits wurden in vielen Städten Stadtheilige oder lokale religiöse Feste stark politisiert und konnten so politische wie soziale Identität stiften. Andererseits wurden städtische religiöse Eliten und ihre Privilegien häufig zur Zielscheibe intensiver Kritik und sogar Gewalt. Schließlich zeigt der Blick auf Städte und ihre überregionalen Netzwerke, dass wir uns das lateinische Europa nicht zu einheitlich vorstellen dürfen: Sie waren häufig Orte der Begnung und des Zusammenlebens unterschiedlicher Religionsgemeinschaften, unter denen Christen, Juden, Muslime, Heiden und diverse 'Häretiker' waren. Auch die reiche Vielfalt unterschiedlicher religiöser Ordensformen und organisierter Laienbewegungen blieb nicht immer konfliktfrei und setzte vielfache Dynamiken frei. Angesichts all dieser Zusammenhänge lassen sich zudem immer wieder Wechselwirkungen und gegenseitige Beeinflussungen städtischer und religiöser Ordnungsmuster feststellen.

Das Hauptseminar lädt dazu ein, anhand dieser Themen ein vertieftes Verständnis mehrerer Kernphänomene der europäischen Vormoderne zu gewinnen. In intensiver Auseinandersetzung mit verschiedenen Quellen sowie mit älterer und neuer Forschungsliteratur wird es auch darum gehen, die differenzierten Zugänge neuerer Forschungen kennenzulernen und kritisch nachzuvollziehen. Voraussetzung für die erfolgreiche Teilnahme ist die aktive Beteiligung an der Seminardiskussion sowie die regelmäßige Lektüre von Abschnitten aus Quellen und Forschungstexten, darunter auch englischsprachigen Texten.

Kurs im HIS-LSF

Semester: ST 2021