Intertextualität meint die Beziehung zwischen zwei oder mehreren Texten. So trivial das Phänomen auf den ersten Blick erscheint, so kompliziert ist dessen theoretische Erfassung, denn faktisch ist jeder Text mit allen anderen Texten, die jemals geschrieben wurden, verbunden. Jeder Text ist, wie sich Julia Kristeva (1972, 348) in ihrem begriffsprägenden Aufsatz ausdrückt, ein „Mosaik von Zitaten”. Die einfachste Form, die uns sofort einfällt, ist das markierte Zitat, wie ich es beispielsweise im vorigen Satz verwendet habe. Neben solchen kleinen Verweisen gibt es breitere Formen der Bezugnahme, etwa die Parodie, die Kollage oder die Imitation. Auch die Zugehörigkeit eines Texts zu einer Gattung ist eine spezifische Art der Intertextualität, ebenso die Übersetzung, die sich wie eine Art Palimpsest über den Originaltext legt. Schließlich ist der Sprachgebrauch an sich, also außerhalb des literarischen Systems, von Intertextualität geprägt. Die Bedeutung eines jeden Satzes, ja, eines jeden Wortes stützt sich auf dessen jahrhunderte- oder gar jahrtausendealte Gebrauchsgeschichte: Jedes Wort trägt in irgendeiner Weise den Ballast aller Kontexte, in denen es jemals verwendet wurde.
Das Spektrum der Intertextualität reicht also vom schnöden Zitat bis zu einer allumfassenden Bestimmung der Sprache. Selbiges gilt dann auch für die Theoretisierung des Phänomens. Die einen Theoretiker:innen versuchen die einzelnen Formen der Bezugnahme begrifflich zu fassen, sie zu definieren und zu systematisieren. Diese Theorien gehen textanalytisch vor und verbleiben zumeist im Bereich der Literatur. Auf der anderen Seite stehen die sehr weiten texttheoretischen Ansätze, die Intertextualität als eine „generelle Dimension von Texten” (Lachmann 1990, 56) betrachten. Ihnen geht es weniger um spezifische intertextuelle Bezugnahmen, vielmehr zielen sie auf eine grundlegende Erneuerung von Literatur- und Kulturtheorie unter dem Banner der Intertextualität: Wenn jeder Text immer schon ein Zitatmosaik ist, dann hat das weitreichende Folgen für althergebrachte Vorstellungen von der ‚Einheit und Geschlossenheit des Werks‘, von ‚Originalität‘ und ‚Autorenintention‘. Dieses Rütteln an den Grundpfeilern der ‚westlichen‘ Kulturen hat nicht zuletzt auch kulturkritisch-politische Implikationen und Ambitionen, wie sich etwa an der Auseinandersetzung mit Intertextualität innerhalb der Gender Studies ablesen lässt.
In diesem Seminar wollen wir die einschlägigen theoretischen Texte zur Intertextualität lesen, die Geschichte des Begriffs rekonstruieren und die zentralen Positionen erschließen, um uns so einen Überblick über das diskursive Feld zu verschaffen, das sich um das Phänomen gebildet hat. Zu unserem Korpus gehören unter anderem Untersuchungen von Michail Bachtin, Julia Kristeva, Roland Barthes, Harold Bloom, Gerard Genette, Renate Lachmann, Ulrich Broich und Manfred Pfister.
Das Seminar setzt keine Vorkenntnisse voraus. Alle Primärtexte, sofern nicht schon ohnehin auf Deutsch verfasst, liegen in deutscher Übersetzung vor. Gleiches gilt für den Großteil der Sekundärliteratur mit Ausnahme einiger weniger Texte in englischer Sprache.

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2021