Goethe als Nationalschriftsteller der Vereinigten Staaten – wer sich mit der amerikanischen Literatur- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts befasst, kann sich dieses Eindrucks kaum erwehren. Für viele Autoren des jungen Amerika ist Goethe eine der zentralen Orientierungsgrößen auf dem Weg zu einer genuin amerikanischen Poetik. Umgekehrt war Goethe im Alter seinerseits zutiefst fasziniert von der technischen Innovationskraft, der sozialen Vielfalt und religiösen Diversität der USA, was sich nicht nur in seinen Lektüren und Aufzeichnungen, sondern auch in seinen literarischen Werken niederschlägt, besonders prägnant in dem Gedicht „Den Vereinigten Staaten“ von 1825 mit seinem vielzitierten Eingangsvers: „Amerika, du hast es besser“.
Die Vorlesung zeichnet diesen transatlantischen Aneignungsprozess von beiden Seiten des Atlantiks her nach. Sie fragt zunächst nach den Quellen und Lektüren, die Goethes Amerikabild bestimmen, und rekonstruiert sodann seine essayistische und literarische Auseinandersetzung mit den USA. Auf dieser Grundlage stellt die Vorlesung einige einschlägige Positionen der amerikanischen Goethe-Rezeption vor, von Ralph Waldo Emerson, Margaret Fuller und Frances Harper über Walt Whitman und Henry James bis zu Saul Bellow. Was sich in dieser doppelten Optik zeigt, ist ein vielschichtiges Beispiel für jenen „geistigen Handelsverkehr“, den Goethe selbst als Kernprinzip einer modernen „Weltliteratur“ beschrieb.

Zur Einführung empfiehlt sich der Aufsatz von Walter Hinderer: Goethe und Amerika, in: W.H./ Alexander von Bormann (Hg.): Goethe und das Zeitalter der Romantik, Würzburg 2002, S. 498-505, sowie zur kultur- und literaturhistorischen Kontextualisierung der Band von David E. Wellbery und Ernst Osterkamp: Deutscher Geist, ein amerikanischer Traum, Marbach am Neckar 2010.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2020/21