Die Angst aus den 1970ern vor einer „Überbevölkerung” oder dem dystopischen Narrativ einer „Bevölkerungsbombe” scheint heute vergessen zu sein. Bevölkerungsreduktion und Bevölkerungskontrolle sind in aktuellen Klima- und Entwicklungspolitiken zu Tabuwörtern deklariert worden – es geht vielmehr um reproduktive Rechte, Familienplanung und sexuelle Aufklärung. Gleichzeitig erstarken im Globalen Norden Initiativen und Kampagnen, die den freiwilligen Verzicht auf ein (weiteres) Kind als „grünen Akt” in Zeiten globalen Klimawandels begreifen. In Großbritannien treten Menschen in einen Gebärstreik (#BirthStrike) und fordern so ein Aufwachen der Klimapolitik. Einige Feminist*innen befürchten angesichts dieser Entwicklungen ein Revival sogenannter neomalthusianischer Bevölkerungspolitiken. Sie kritisieren, dass nicht etwa unsere imperiale Lebensweise oder kapitalistische Produktionsverhältnisse, sondern der reproduktive Körper in den Fokus ökologischen Handelns rückt.

Ausgehend von dieser facettenreichen Debatte um Kindergebären in Zeiten globalen Klimawandels werden wir uns im Seminar mit Bevölkerung und intersektionalen Ansätzen in der Bevölkerungsgeographie beschäftigen. Dafür verfolgen wir zunächst entlang einiger historischer Beispiele die unterschiedlichen Facetten globaler Bevölkerungspolitiken. Auch fragen wir, welche Rolle Bevölkerungsstatistiken und Bevölkerungswissenschaften dabei spieeln. Warum sind Bevölkerungspyramiden, Kurven und statistische Daten politisch? Inwiefern reproduzieren bevölkerungsbezogene Daten und Kategorien soziale Ungleichheiten? Wie werden in Bevölkerungsszenarien spekulative Zukünfte produziert und Politiken daran angepasst? Wie werden Leben zu kalkulierbaren statistischen Größen? Daran anknüpfend fragen wir uns, ob Bevölkerungsstatistiken und -politiken auch sozial gerecht sein können. Dafür lernen wir die US-Amerikanischen Kämpfe Schwarzer Frauen* um reproductive justice näher kennen und werfen die Frage auf, inwiefern diese sich mit Forderungen nach Umweltgerechtigkeit verbinden lassen. Am Beispiel des Afrozensus fragen wir uns, wie Lebensrealtiäten jenseits problematischer Kategorien statistisch erfasst werden können.

 

Obligatorische Vorbesprechung am 28.10.2020 um 18:00Uhr via Zoom (weitere Infos per Mail)

Lektüre zum Einstieg: Schultz, Susanne; Gottschlich, Daniela (2019): Weniger Klimawandel durch weniger Menschen? FARN URL: https://www.nf-farn.de/weniger-klimawandel-weniger-menschen (zuletzt aufgerufen am 24.06.2020). 

Murphy, Michelle (2017): The Economization of Life. Duke University Press.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2020/21