Träger:innen von Rechten sind stets individuelle Personen. – Diese Auffassung ist in der liberalen Tradition der Rechtsphilosophie fest verankert. Gruppen können demnach allenfalls in abkürzender oder abgeleiteter Weise Rechte haben – nämlich genau dann, wenn alle Individuen, die Mitglied einer solchen Gruppe sind, das fragliche Recht haben.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es nicht zumindest einige Rechte gibt, die genuine Gruppenrechte sind, die also von Gruppen nur als Gruppe beansprucht oder ausgeübt werden können. Ein klassisches Beispiel für ein solches Gruppenrecht ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker (oder Nationen), das nicht von einzelnen Mitgliedern eines Volkes ausgeübt werden kann und zumeist (aufgrund der internen Diversität solcher Großgruppen) auch nicht von allen Mitgliedern der Gruppe beansprucht wird. Ein weiteres Beispiel sind die Kompensationsansprüche, die durch Quotierungen ausgeglichen werden sollen, sofern sich solche Ansprüche auf die Repräsentanz von Gruppen in bestimmten Funktionen oder Institutionen beziehen.
Auch im Bereich der Medizinethik gibt es prima facie viele Anwendungsfälle, in denen man sich auf Gruppenrechte beruft. Man denke (z. B. während einer Pandemie) an die Schutzrechte „besonders gefährdeter Gruppen“, die eine Einschränkung von individuellen Grundrechten begründen sollen. Außerdem wird bei der Rechtfertigung klinischer Forschung an Patient:innen häufig auf den Nutzen für „zukünftige Patientengenerationen“ verwiesen – eine große und unübersichtliche Gruppe. Und schließlich ergibt sich (ebenfalls in der klinischen Forschung) das Problem, dass sich die Gruppe der Proband:innen von der Gruppe der Profiteur:innen einer Studie in einer Weise unterscheiden, die juridisch oder moralisch relevant ist. Dies ist zum einen bei Forschungsprojekten in Entwicklungsländern der Fall, in der die Gruppe der Proband:innen aufgrund der limitierten Ressourcen nie die Chance hat, von den Ergebnissen der Studie zu profitieren. Zum anderen kann man hier auf den Umstand verweisen, dass die in klinische Studien eingeschlossenen Probanden aus methodischen Gründen häufig männlich sind, was die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse auf weibliche Patientengruppen stark einschränken kann.
Im Seminar werden wir zunächst verschiedene Konzeptionen von Gruppenrechten kennenlernen und präzisieren, wie deren Verhältnis zu individuellen Rechten im Detail bestimmt ist. Danach werden wir konkrete Anwendungsfälle daraufhin untersuchen, welche Rolle Gruppenrechte bei der Klärung der jeweils bestehenden moralischen und rechtlichen Ansprüche spielen.
- Lehrende/r: Martin Hoffmann