Der Ausdruck „Ethics of Care“ oder „Care-Ethik“ ist mehrdeutig. Erstens: In der deutschen Sprache hat in jüngerer Zeit die Rede von „Care-Arbeit“ Einzug gehalten; damit lassen sich Tätigkeiten wie das Erbringen von Pflege und anderen sozialen Dienstleistungen, Betreuung- und Fürsorgearbeit zusammenfassen. „Care-Ethik“ könnte nun als diejenige angewandte Ethik zu verstehen sein, die sich mit diesen Bereichen befasst. Wir werden sehen, dass diese Bereiche zwar aus der Perspektive der Care-Ethik eine besondere Rolle spielen, dass sich der Ausdruck aber nicht primär darauf bezieht. Beispielsweise kann in der Pflegeethik der Care-Ethik besonderes Augenmerk gelten; doch können auch andere Ansätze verfolgt werden. Zweitens: Ein anderes Verständnis lässt sich vor allem historisch erschließen. Ein Blick in die Stanford Encyclopedia of Philosophy zeigt, dass es dort keinen eigenen Eintrag zu „Ethics of Care“ gibt. Stattdessen wird der Ausdruck unter dem Lemma „Feminist Ethics“ erläutert. Hier wird deutlich, dass mit „Care Ethics“ ein spezifisch weibliches Verständnis von Ethik, eine besondere Herangehensweise an ethisch relevante Fragen gemeint sein kann, die – so die Behauptung – bei Frauen besonders ausgeprägt sei oder sogar nur bei Frauen vorkomme. Die Bedeutung dieser Strömung innerhalb der feministischen Ethik lässt sich am besten ermessen, indem sie im Rahmen einer historischen Kontextualisierung als Antwort auf zu einer bestimmten Zeit vorherrschende Strömungen innerhalb der (angewandten) Ethik verstanden wird, als Kritik an X und Gegenbewegung zu X. Exemplarisch ist der Text von Carol Gilligan (1982) „In a Different Voice: Psychological Theory and Women's Development“ zu nennen, in welchem sie sich, grob gesagt, mit entwicklungspsychologischen Unterschieden der Moralentwicklung von Frauen und Männern auseinandersetzt und u.a. – contra Lawrence Kohlberg – die These vertritt, dass es eine spezifisch ‚weibliche Moral‘ bzw. spezifisch weibliche ethische Wahrnehmung und Entscheidungsfindung gebe, die andere Merkmale aufweise als diejenige von Männern. Dieser Text kann historisch als Gründungstext der Care-Ethik verstanden werden. Wir werden im Seminar sehen, dass Gilligans Text und die zugrundeliegenden Studien an verschiedenen Problemen kranken, die ihre eigene Glaubwürdigkeit zu unterminieren geeignet sind. Wir können auch – gestützt auf empirische Studien bis in die Gegenwart – begründet bezweifeln, dass Männer und Frauen in puncto Ethik so ‚unterschiedlich gestrickt‘ sind, wie Gilligan, ihre Adepten und andere das behauptet haben und womöglich nach wie vor behaupten. Drittens: Spannender ist deshalb die Frage, was es mit dem X auf sich hat, zu dem Care-Ethik nach eigenem Verständnis eine Alternative bieten möchte. Woran übt Care-Ethik Kritik? Welche anderen Ansätze gibt es in der Ethik und warum sollten diese eine Ablösung oder Ergänzung durch Care-Ethik erfahren? Ist die care-ethische Kritik, etwa der Vorwurf zu starker Ausrichtung auf Autonomie und rationale Entscheidungsfindung, die Vernachlässigung von Emotionen in der Ethik, überhaupt berechtigt? –

Diese Fragen zeigen bereits, dass in diesem Seminar zunächst eine – zwar knappe, aber doch systematische – Einführung in die Grundlagen der (normativen und angewandten) Ethik erfolgen muss, damit überhaupt der Hintergrund deutlich wird, von dem die Care-Ethik sich dem eigenen Anspruch nach wie eine Kontrastfolie abheben möchte.

 

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2020