Verfolgt man die gesellschaftliche Selbstbeobachtung der letzten Jahre, so kann man schnell den Eindruck gewinnen, in einer Zeit zu leben, die in zunehmendem Maße durch Angst geprägt ist. Manche Soziologen haben von einer „Angstgesellschaft“ gesprochen, die durch soziale Beschleunigung, wachsende Kontingenz und Unsicherheit, aber auch neuartige konkrete Bedrohungen wie Terrorismus, Nuklearwaffen, Klimawandel oder sozialen Abstieg hervorgerufen worden sei. Ob die Menschen der Gegenwart ängstlicher sind als in früheren Zeiten, ist indes sehr umstritten; Angst, so hat man eingewendet, scheint eine anthropologisch konstante Basisemotion zu sein, die menschliche Existenz grundsätzlich immer bedingt. Weniger strittig ist hingegen, dass die spezifischen Formen, Kontexte, Anlässe und Manifestationen von Angst soziokulturell konditioniert und daher in historischen Gesellschaften sehr unterschiedlich sind. Vor diesem Hintergrund möchte das Seminar die besonderen Erscheinungen von ‚Angst‘ betrachten, welche die Gesellschaften des europäischen Mittelalters prägten. Wovor hatten Menschen Angst, in einer Zeit, in der Dämonen reale Bedrohungen darstellen, Hexen und Ketzer mit dem Teufel paktieren, mitunter sogar Tiere diabolisch unterwegs sein konnten, das Jüngste Gericht erwartet wurde, oder soziale Konflikte mit höherer Gewaltbereitschaft einhergingen? Welche Reaktionen sind auf diese Ängste zu beobachten? Wurden Ängste gezielt geschürt oder instrumentalisiert, um politische Gegner zu diskreditieren, oder um zu mahnen, Ansprüche einzufordern, ein bestimmtes Verhalten zu motivieren? Diese und weitere Fragen wird das Seminar durch die Lektüre einschlägiger mittelalterlicher Quellen sowie psychologischer und soziologischer Theorietexte diskutieren und dabei gleichzeitig in wissenschaftliche Arbeitstechniken und Fragestellungen einführen.

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2020