Die moderne Geschichte der arabischen Welt weist zahlreiche politische Wendepunkte und Umbruchphasen auf, von denen einige primär ein Land betreffen, während andere über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus Wirkung zeigen. Diese politischen Wendepunkte sind zumeist mit tiefgreifenden gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüchen verbunden und bringen Veränderungen in ideologischen Ausrichtungen und im kulturellen Feld mit sich. Intellektuelle, Literat*innen und Künstler*innen setzen sich in ihren Arbeiten mit diesen Umbrüchen auseinander, vermitteln unterschiedliche Perspektiven und setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Und auch wenn die späten 1950er und frühen 1960er Jahre als die Zeit des literarischen Engagements (iltizam) gelten, spricht auch aus späteren Texten der Wille, die gelebte Realität nicht nur widerzuspiegeln, sondern ‒ nicht zuletzt durch das Experimentieren mit Form und Sprache ‒ zu kritischem Denken und gar zur aktiven Veränderung dieser Realität anzuregen.

 

Im Seminar werden wir uns anhand literarischer Texte aus unterschiedlichen Ländern mit einer Reihe von politischen Wendepunkten beschäftigen. Palästinensische Autor*innen schreiben etwa über die Auswirkungen des Nahostkonflikts, der Nakba (1948), der Naksa (1967) oder der (ersten) Intifada (1987), über Heimatverlust, Leben unter der Besatzung oder Geschlechterverhältnisse. Prägende Phasen der algerischen Geschichte wie der Unabhängigkeitskrieg (1954-1962) und das ‚schwarze Jahrzehnt‘ des islamistischen Terrors (1990er Jahre) werden in der arabisch- wie in der französischsprachigen Literatur reflektiert. Der Wandel in der Auseinandersetzung mit dem libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) und seinen Nachwirkungen lässt sich anhand von Romanen, Graphic Novel und Performance, von Kriegsbeginn bis heute, nachvollziehen. Auch die ägyptische Literatur reflektiert in ihren vielfältigen Formen die politisch-gesellschaftlichen Umbrüche, etwa die Revolution der Freien Offiziere (1952), die mit Sadats Präsidentschaft einsetzende neoliberale infitaḥ-Politik (1973‒) und die Revolution von 2011. Literatur in Exil und Diaspora steht oftmals im Spannungsfeld von Ereignissen in der Herkunftsregion und der ‚neuen Heimat‘. Geplant ist, dass die Seminarteilnehmer*innen sich zu länderspezifischen Kleingruppen zusammenfinden, innerhalb derer sie sich mit den jeweiligen historischen Umbruchsituationen auseinandersetzen und herausarbeiten, mit welchen inhaltlichen Aspekten, aus welcher Perspektive und mit welchen literarischen Formen diese in den literarischen Texten verhandelt werden.

 

Literatur zur Einführung: Angelika Neuwirth, Andreas Pflitsch, Barbara Winckler (Hg.): Arabische Literatur, postmodern (2004); M. M. Badawi (Hg.): Modern Arabic Literature, Cambridge 1992 (CHAL); Roger Allen: The Arabic Novel. An Historical and Critical Introduction, Syracuse 1995; Verena Klemm, Beatrice Gruendler (Hg.): Understanding Near Eastern Literatures. A Spectrum of Interdisciplinary Approaches, Wiesbaden 2000; Friederike Pannewick, Georges Khalil (Hg.): Commitment and Beyond: Reflections on/of the Political in Arabic Literature since the 1940s (2015); Nayef R. F. Al-Rodhane, Graeme P. Herd, Lisa Watanabe: Critical Turning Points in the Middle East 1915-2015 (2011).

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2020