Das alal-Motiv im urbanen Raum: Krieg, Exil, und Wiederaufbau in der libanesischen Literatur (Lektüre und Diskussion auf Arabisch)

الوقوف على أطلال المدينة: الحرب والمنفى وإعادة الإعمار في الأدب اللبناني

Aufgrund der politischen Instabilität des Libanon war der städtische Raum hier stets ein umkämpftes Gelände. Immer wieder wurde er zerstört, wieder aufgebaut und erneut zerstört. Das jüngste Beispiel ist das Wiederaufbauprojekt der Immobiliengesellschaft Solidere, im Rahmen dessen nach Ende des fünfzehn Jahre andauernden Bürgerkriegs (1975-1990) achtzig Prozent des Beiruter Stadtzentrums abgerissen wurden. Der libanesische Intellektuelle Jalal Toufic beschreibt die im Nachkriegslibanon vorherrschende Gleichgültigkeit gegenüber den Kriegsruinen als Sakrileg, als Fortsetzung des Krieges, „the war on the traces of the war“, der alle materiellen Spuren der jüngsten Vergangenheit aus dem Stadtraum verbannen wolle. Solche Versuche seien jedoch zum Scheitern verurteilt, da ein verlassener Ort nicht bloß nach seiner Zerstörung, sondern selbst nachdem er restauriert sei, als ‚Ruine‘ fortbestehe. Die Geschichte, oder die Geschichten, die vielfach dem Vergessen anheimfallen sollten, bleiben in den Gedanken der Menschen angesichts der städtischen Ruinen präsent. Anders als Sozialtheorie und Soziologie kann die Literatur einen Raum schaffen, in dem lokale Charaktere über ‚die Ruinen‘ sprechen und dabei über die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Auswirkungen auf nationaler und individueller Ebene reflektieren.

Die Präsenz und Ausgestaltung von ‚Ruinen‘ in der libanesischen Literatur wird oft auf ein vorislamisches Motiv zurückgeführt: al-wuquf ‘ala l-aṭlal, die Klage des Dichters am verlassenen Lagerplatz, die vergangene Begegnungen, zumeist eine unerfüllte Liebe, evoziert. Jüngere Vorstellungen des aṭlal-Motivs, wie die Toufics, regen jedoch implizit zur Neubetrachtung einer solchen Zuschreibung an. Vor diesem Hintergrund soll in diesem Kurs das aṭlal-Motiv in der libanesischen Literatur und Kunst betrachtet werden. So zeugen der Krieg und seine Spuren in vielen Romanen vielmehr vom Trauma des Verlusts, wie in Huda Barakats Ḥariṯ al-miyah (1998), vom Leiden der Flüchtlinge, wie in Ḥasan Dawuds Binayat Matild (1983), oder von den Auswirkungen neoliberaler Kräfte, wie in Rabi‘ Gabirs Taqrr Mehlis (2005).

Im Rahmen des Kurses werden Ausschnitte aus literarischen Texten wie auch wissenschaftliche Aufsätze oder Artikel aus Literaturzeitschriften gelesen und auf Arabisch diskutiert. Der Kurs bietet somit einerseits die Gelegenheit, sich mit der jüngeren libanesischen Geschichte und den individuellen und kollektiven Auswirkungen des Bürgerkriegs zu beschäftigen, wie sie von libanesischen Intellektuellen in Literatur und Kunst reflektiert werden. Andererseits ermöglicht er, Arabisch aktiv im wissenschaftlichen Kontext zu praktizieren und dabei die mündliche wie schriftliche Sprachkompetenz zu erproben und zu verbessern sowie einen Einblick in die Forschungsdiskussion zu gewinnen und wichtige arabischsprachige Fachpublikationen (Online- und Printmedien) kennenzulernen. Die genauen Formate richten sich nach dem sprachlichen Niveau der einzelnen Teilnehmer*innen, die die Gelegenheit erhalten, an ihrer individuellen Sprachkompetenz zu arbeiten, sei es in Paar- oder Gruppenarbeit, durch Kurzreferate oder kurze Essays.

Der Lektürekurs wird, vorbehaltlich einer Lehrauftragserteilung, zusammen mit Dani Nassif gegeben.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2019/20