Gemäß einem gängigen Narrativ waren Religion und Politik in vormodernen Zeiten eng miteinander verquickt, während sich die politische Moderne im Gegenteil darin auszeichnet, beide Sphären voneinander zu abstrahieren. Nach einem bekannten Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde bedeutet es deshalb die Charakteristik der modernen und säkularen politischen Ordnung, sich „von ihrer geistlich-religiösen Bestimmung“ gelöst sowie zu „eigener, weltlich konzipierter (politischer) Zielsetzung und Legitimation“ gefunden zu haben.

Indes wurden nicht erst seit der viel zitierten „Rückkehr der Religionen“ (Riesebrodt 2000) Zweifel daran laut, dass sich die Religion in der Moderne tatsächlich ins Private verabschiedet oder womöglich ganz verschwindet. Ideengeschichtliche Konzepte wie die Zivilreligion (Rousseau), die Politische Theologie (Schmitt) oder auch die politischen Religionen (Voegelin) zeugen stattdessen seit Langem davon, wie sich das Religiöse selbst unter säkularen Vorzeichen eine politische Relevanz bewahrt. In der Gegenwart, in der die (gefühlte) Konfliktanfälligkeit religiös-kultureller Identitäten längst ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung gerückt ist, wird das Verhältnis von Politik und Religion, Staat und Kirche neuerlich kontrovers diskutiert. Nicht zuletzt angesichts wachsender Bedrohungsperzeptionen durch ,den‘ Islam erinnert man sich derzeit auch wieder an die ,Religionskriege‘ in Europa, die eine Trennung von Politik und Religion, Staat und Kirche scheinbar erst unumgänglich gemacht hatten.

Der Kurs will die ambivalente Rolle der Religion im demokratischen Rechtsstaat anhand von klassischen und aktuellen Ansätzen kritisch reflektieren und problematisieren. Möglichkeiten wie Grenzen weltanschaulicher Neutralität und religiöser Pluralität sollen dabei ebenso ausgelotet werden wie die Frage, inwieweit die historisch gewachsenen religionspolitischen Regelungen in den (west-)europäischen Demokratien heute noch zeitgemäß sind oder nicht.

 

Studienleistung: Präsentation, fortgeschrittenes wissenschaftliches Arbeiten

Prüfungsleistung: Hausarbeit nach Maßgabe der Prüfungsordnung

 

Empfohlene Literatur:

Bizeul, Yves: Glaube und Politik. Wiesbaden: VS 2009.

Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. 5. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013, S. 92-114.

Casanova, José. Europas Angst vor den Religionen. Berlin: UP 2009.

Cavuldak, Ahmet. 2015. Gemeinwohl und Seelenheil. Die Legitimität der Trennung von Religion und Politik in der Demokratie Bielefeld: transcript.

Fischer, Karsten. Die Zukunft einer Provokation. Religion im liberalen Staat. Berlin: UP 2009.

Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001. In: Zeitdiagnosen. Zwölf Essays. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 249–262.

Hidalgo, Oliver: Politische Theologie. Beiträge zum untrennbaren Zusammenhang zwischen Religion und Politik. Wiesbaden: Springer VS 2018.

Hidalgo, Oliver und Christian Polke (Hrsg.): Staat und Religion. Zentrale Positionen zu einer Schlüsselfrage des politischen Denkens. Wiesbaden: Springer VS 2017.

Joas, Hans. Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin: Suhrkamp 2017.

Lilla, Mark: Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religion. München: Kösel 2013.

Minkenberg, Michael: Staat und Kirche in westlichen Demokratien. In: Michael Minkenberg und Ulrich Willems (Hrsg.): Politik und Religion. PVS-Sonderheft 33. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 115–138.

Roy, Olivier: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2011.

Stepan, Alfred: The World’s Religious Systems and Democracy. Crafting the Twin Tolerations. In: Arguing Comparative Politics, Oxford/New York: Oxford University Press 2001, S. 213–254.

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2019