Vergessen und Erinnern sind alltägliche und grundlegende menschliche Erfahrungen. Wir leben nie nur in der Gegenwart. Wir leben auf die Zukunft hin und verstehen uns aus der Vergangenheit heraus. Durch die Re-Präsentation bzw. Re-Interpretation und durch Selektion vergangener Ereignisse „komponieren” wir – bewusst oder unbewusst – die Geschichte eines Lebens oder einer Gemeinschaft. Das heißt: Erinnern und Vergessen als sinnstiftende Funktion unseres Gedächtnisses haben einen beträchtlichen Anteil an der Herausbildung und Entwicklung unserer individuellen und kollektiven Identität und ihrer Veränderung. Das gilt in ganz besonderer Weise für den christlichen Glauben des Einzelnen und seiner Vergemeinschaftung. Als sog. „Gedächtnisreligion” bestimmt sich die Gegenwart des Menschen einerseits aus der Glaubenserinnerung (Zeugnis, Tradition, Hl. Schrift) und andererseits aus der zukunftsweisenden (Heils-)Hoffnung. Dabei spielen unweigerlich Interessen und Machtverhältnisse rein, die es kritisch zu hinterfragen gilt.

Im Seminar werden Orte, Formen & Funktionen des Erinnerns und Vergessens aus kulturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Perspektive anhand wirkmächtiger Konzeptionen und Theorien (z. B. Platon, Augustinus, F. Nietzsche, S. Freud, M. Augé, P. Ricoeur, J. B. Metz, A. Assmann etc.) vorgestellt und auf ihr kritisches Potential sowie ihre Grenzen hin befragt. Im Rahmen des fachwissenschaftlichen Aufbaumoduls „Christentum in Raum und Zeit” sollen v.a. die anthropologischen, epistemologischen und ästhetischen Dimensionen von Erinnern und Vergessen betrachtet werden, um schließlich die christlich-theologische Kunst und Kritik des Erinnerns und Vergessens beschreiben und analysieren zu können. Dabei steht die Frage im Vordergrund: Welche Funktionen kommen dem Erinnern und Vergessen im Christentum in Raum und Zeit zu, wie verändern sie sich und wie verändern sie (oder wir durch sie) die Vorstellung von Christentum, von Raum und Zeit?

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2019