Diese Übung widmet sich der Frage, wie sich die Vorstellung von der Familie und das familiäre
Zusammenleben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderte, etwa in Bezug auf
Rollenverhältnisse, rechtliche Rahmenbedingungen oder auch Reproduktionsentscheidungen.
Herrschte in der frühen Bundesrepublik noch die Vorstellung der Kernfamilie aus verheirateten
Eltern, Mutter und Vater, mit leiblichen Kindern vor, haben sich seitdem die familiären Formen
vervielfältigt: Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, Stieffamilien und Adoptivfamilien, aber
auch verheiratete Paare ohne Kinder finden sich in der Bundesrepublik mittlerweile ebenso, wie die
Kernfamilie. Zu dieser Vervielfältigung hat nicht zuletzt die Veränderung in den
Geschlechterverhältnissen beigetragen, welche die Frauenbewegung und die Schwulen- und
Lesbenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren anstießen. Diese beiden Bewegungen brachten
zudem neue Formen der Geschichtsschreibung in die Wissenschaft ein und stellten die bisherige
Historiographie infrage, die der Perspektive und Lebenswirklichkeit von Frauen und nichtheterosexuellen
Menschen zuvor wenig Beachtung geschenkt hatte.
Die Übung wird anhand der theoretischen Zugänge aus Gender- und Queertheorie die Geschichte
der Familie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beleuchten und dabei nach den
Verwicklungen von Theoriebildung und politischem Aktivismus fragen. Welche Rolle spielte etwa
die Frauenbewegung und ihre historische Aufarbeitung von Geschlechterrollen darin, das
Rollenverhältnis innerhalb der Familie neu auszuhandeln? Welche Stellung nahm die
Homosexuellenbewegung gegenüber der Ehe ein und wie verändert sich diese Haltung durch die
Kritik heteronormativen Lebensweisen?
Neben theoretischen Texten, die teilweise in englischer Sprache gelesen werden, wird anhand
einschlägiger Sekundärliteratur und Quellenmaterialien erarbeitet, wie die Familie von
verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren verhandelt wurde, wie sich ihre Position veränderte und
wie diese geschichtswissenschaftliche Theoriebildung beeinflussten.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WT 2018/19