Erzählen wird in der jüngeren, kulturwissenschaftlich ausgerichteten und zunehmend kontextorientierten Narratologie als eine ‚anthropologische Universalie‘ betrachtet, wird doch, so die in jenem Zusammenhang häufig vertretene Annahme, überall erzählt – zeiten- ebenso wie kulturraumübergreifend. Dabei gerät nicht selten eine fundamentale heuristische Differenzierung zwischen erzählten Geschichten (histoire) und Erzählweise (discours) wieder aus dem Blick, die doch eine der Grundlagen strukturaler Erzähltheorie des 20. Jahrhunderts darstellte. Ihre Leistungsfähigkeit bestand und besteht insbesondere auch in einer Berücksichtigung der Medialität des Erzählens – in einer Trennung nämlich zwischen medienabhängiger (discours) und medienunspezifischer Ebene (histoire) des Erzählens.

 

Der Kurs will hier erneute Aufmerksamkeit auf die Leistungsfähigkeit einer von den erzählten Ereignisfolgen der Texte abstrahierten strukturalen Erzähltheorie lenken. Auf der Basis einer intensiven Lektüre von Jurij M. Lotmans in „Die Struktur literarischer Texte“ (dt. 1972) dargelegter Grenzüberschreitungstheorie soll insbesondere der Zusammenhang von Ereignisfolgen, Raumkonstruktion, Bedeutungsgebung und narrativen Strukturen in literarischen Texten untersucht werden.

 

Im Mittelpunkt steht dabei die für Lotmans Texttheorie zentrale Annahme, dass künstlerische Texte eigenständige Welten entwerfen, die nach eigenen Regeln und Logiken organisiert sind und jeweils spezifische ‚Bedeutungsräume‘ erschaffen. Grundannahme ist, dass sich aus dem Figurenhandeln in der dargestellten Textwelt, aus den ‚Raumwechseln‘ und ‚Grenzüberschreitungen‘ der Figuren, nach Lotman die narrative Struktur des Textes ableiten lässt. Die Rekonstruktion der je spezifischen Raumordnung von Texten stellt somit ein Analyseverfahren dar, auf dessen Basis sich anschließend die durch ‚Raumwechsel‘ repräsentierten Erzähl- als ‚Ereignis‘-Strukturen beschreiben lassen. Von Interesse ist dabei vor allem, wie die Teilbereiche der dargestellten Textwelten ‚semantisiert‘, d.h. mit sekundärer semiotischer Bedeutung versehen sind – und in welchem Verhältnis Figurenhandeln und Raumordnung im einzelnen Text zueinander stehen.

 

Mit diesen und weiteren Fragen befasst sich das Seminar in einem ersten Teil, in dem wir auf der Basis der Grenzüberschreitungstheorie Jurij M. Lotmans ein Modell zur Analyse narrativer Strukturen erarbeiten wollen. Dessen praktische Eignung als ein Werkzeug zur epochen-, gattungen- und medienübergreifenden Textanalyse werden wir dann in einem zweiten Teil des Kurses an Textbeispielen unterschiedlicher Gattungen aus der deutschen Literaturgeschichte vom 17. bis zum 21. Jahrhundert erproben. Überprüft werden soll dabei auch, inwieweit sich Lotmans strukturale Erzähltheorie für eine historische Spezifizierung von Texten und Textkorpora funktionalisieren lässt: Kann über die Rekonstruktion von Raumsemantiken und Ereignisstrukturen auf der histoire-Ebene von Texten zugleich ein literarischer und kultureller Wandel abgebildet werden?

 

Von Relevanz sind dabei u.a. folgende Aspekte:

- die Konzeption von Textualität und das Verhältnis von Text und Kontext,

- die Konstituierung von 'Bedeutung' durch Differenzlogik,

- der Zusammenhang von ereignishaftem Figurenhandeln und Narrativität,

- die Raumkonstruktion mittels semantischer Grenzziehungen,

- die in den Texten entworfenen Wert- und Normsysteme.

 

Wichtige Termininformation: Der Lektürekurs wird mit einem Kompaktseminar am 6. und 7.2.2017 (CIP-Pool, VSH) abgeschlossen.

 

Seminarlektüre (bitte anschaffen!):

 

- Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, 4. Aufl. München 1993.

- Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, 3. Aufl. München 1993 [Kopiervorlage, erhältlich ab dem 20.10. im Sekretariat VSH 150].

Kurs im HIS-LSF

Semester: WT 2016/17