Thio- und Selenoborate der
Alkali- und Erdalkalimetalle sowie ausgewählter
Nebengruppenmetalle
Mitarbeiter: | Arno Lindemann
(email alindem@uni-muenster.de) Joachim Kuchinke (email kuchink@uni-muenster.de |
frührere Mitarbeiter: | P. zum Hebel (1992) Adrienne Hammerschmidt (1993) Frank Hiltmann (1993) Jörn Küper (1996) Christoph Jansen (1997) |
back
1.)
Borsulfide und Borselenide
Im letzten Jahrhundert entstanden die ersten
Arbeiten über Bor-Schwefelverbindungen [1,2], jedoch erst Mitte
dieses Jahrhunderts setzten systematische
Untersuchungen auf dem Gebiet der Borchemie ein. Die
Beschreibung der Bor-Schwefel(Selen)-Chemie beschränkte
sich zunächst auf binäre Phasen. In der Literatur findet
man zahlreiche Verbindungen, wie z.B. B12S
[3], BS [4-6], B2S3 [7-14], BS2
[15-18], B2S5 [13,14] und B2Se3
[19,20] von denen aber bisher nur die Bor-Schwefel-Phasen
B2S3, (BS2)n, B8S16
und die Bor-Selen-Phase (BSe2)n eindeutig
durch röntgenographische Untersuchungen an
Einkristallen charakterisiert wurden.
Erste kristallographische Untersuchungen an B2S3 führten H.Y. CHEN, B. CONARD und P.W. GILLES [10] durch. B. KREBS und H. DIERCKS gelang es 1975, den strukturellen Aufbau aufzuklären, eine vollständige Strukturanalyse gelang 1989 durch B. KREBS und P. ZUM HEBEL [21-23]. Die genaue Kristallstruktur war lange Zeit unklar, da Einkristalle der Verbindung ausschließlich in mikroverzwilligter Form erhalten wurden. B2S3 bildet eine Schichtstruktur aus planaren, über Schwefelbrücken miteinander verknüpften B3S3-Sechs- und B2S2-Vierringen im Verhältnis 2 : 1 mit ausschließlich trigonal-planar koordiniertem Bor. In den beiden anderen, von B. KREBS und H.-U. HÜRTER beschriebenen binären Borsulfiden (BS2)n [24,25] und B8S16 [24-26] liegt Bor ebenfalls trigonal-planar von Schwefel koordiniert vor. In beiden Verbindungen ist der B2S3-Fünfring das dominierende Strukturelement. Während im (BS2)n diese Fünfringe über verbrückende Schwefelatome zu endlosen Ketten verknüpft sind, beobachtet man im B8S16 eine Kondensation von vier derartigen Einheiten zu porphinanalogen, planaren B8S16-Molekülen. Auffallend sind die großen transannularen S-S-Abstände im B8S16 von 4,6 Å. B8S16 sollte sich daher gut als Ligand für quadratisch-planare Koordinationen der d8- und d9-Übergangsmetalle wie Ni2+, Cu2+ und Pd2+ eignen. Berechnungen für einen hypothetischen [Cu(B8S16)]2+-Komplex zeigen zwar eine geringere Stabilität als für einen entsprechenden Porphin-Komplex, aber eine zu makrocyclischen Thioether-Liganden vergleichbare Stabilität [27,28].
Das einzige bisher strukturell charakterisierte Borselenid ist das (BSe2)n [24,25], welches eine zum (BS2)n isotype Kristallstruktur bildet.
Ein Vergleich der B2S3-Struktur mit den entsprechenden Bor-Sauerstoff-Verbindungen zeigt außer der trigonal-planaren Koordination keine Gemeinsamkeiten auf. B2O3-I [29,30] besteht aus Ketten eckenverknüpfter BO3-Dreiecke, die über weitere Ecken zu einem dreidimensionalen Netzwerk verknüpft sind. In einer anderen metastabilen Hochdruckmodifikation, dem B2O3-II [31], liegen eckenverknüpfte BO4-Tetraeder vor.
Mit der trigonal-planaren
Koordination in den binären Chalkogeniden nimmt Bor
in der dritten Hauptgruppe eine Sonderstellung ein.
Die Sulfide der schwereren Homologen Aluminium,
Gallium und Indium weisen eine tetraedrische oder
höhere Koordination der Metallatome auf.
Top
2.) Chalkogeno-
und Perchalkogenoborate des Schwefels und Selens
Die bereits bei den binären Borsulfiden und -seleniden gezeigten deutlichen strukturchemischen Unterschiede zu den anderen Elementen der dritten Hauptgruppe setzen sich bei den ternären und quaternären Borsulfiden und -seleniden fort.
Mittlerweile konnte eine ganze Reihe
von Thio- und Selenoboraten röntgenstrukturanalytisch
charakterisiert werden. Bemerkenswert ist die
strukturelle Vielfalt dieser Verbindungsklasse. Entscheidend für
diese Vielfalt ist die Eigenschaft des Bors, sowohl trigonal-planare
als auch tetraedrische Koordinationen einzugehen, ohne daß
eine der beiden Möglichkeiten außergewöhnlich bevorzugt wird.
Durch Verknüpfungen von BS3-Dreiecken und BS4-Tetraedern
als kleinsten formalen Baueinheiten zu größeren
Aggregaten ergeben sich verschiedenartigste
Anionenstrukturen.
Verbindung | Polymerisationsgrad | Koordination des Bors | Literatur |
Li3BS3 Li2CsBS3 LiBaBS3 LiSrBS3 Sr3(BS3)2 Ba3(BS3)2 Tl3BS3 KBa4(BS3)4 K4Ba11(BS3)8S Sr4,2Ba2,8(BS3)4S |
isolierte [BS3]3--Anionen | trigonal-planar | [32,33] [34] [35] [32] [36] [37] [38,39] [40] [34] [34] |
Cs2B2S4 | isolierte [B2S4]2--Anionen | trigonal-planar | [41] |
Na2B2S5 Li2B2S5 |
isolierte [B2S5]2--Ringe | trigonal-planar | [42] [42] |
Na3B3S6 K3B3S6 Rb3B3S6 Sr3(B3S6)2 LiSrB3S6 LiBaB3S6 |
isolierte [B3S6]3--Anionen | trigonal-planar | [24,43,44] [24,43-45] [43,46] [46] 43,46] [35,47] |
Pb4B4S10 | isolierte [B4S10]8--Anionen | tetraedrisch | [24,48-50] |
RbBS3 CsBS3 TlBS3 Tl3B3S10 K2B2S7 |
Ketten | tetraedrisch | [46,51] [34] [51,52] [51] [53] |
TlBS2 SrB2S4 |
Schichten | tetraedrisch | [52,54] [54] |
Li6+2x(B10S18)Sx(x = 2) Li4-2xSr2+xB10S19(x = 0,27) Li3Na5B10S19 Li5B7S13 Li9B19S33 Na6B10S18 Ag6B10S18 |
Raumnetzstrukturen | tetraedrisch | [23,55,56] [47,57,58] [40] [56,59,60] [59] [57] [61] |
BaB2S4 | Ketten | tetraedrisch und trigonal-planar | [62] |
Verbindung | Polymerisationsgrad | Koordination des Bors | Literatur |
Tl3BSe3 | isolierte [BSe3]3--Anionen | trigonal-planar | [39] |
Na2B2Se7 K2B2Se7 Rb2B2Se7 CsBSe3 Cs3B3Se10 TlBSe3 |
Ketten | tetraedrisch | [53] [53] [40] [34] [34] [63] |
Li2B2Se7 | Schichten | tetraedrisch | [40] |
Literaturverzeichnis
Top
a) trigonal
planare Koordination
Zu der kleinsten gefundenen Einheit gehört das isolierte, planare [BS3]3--Anion, welches in den Orthothioboraten vorliegt. Bor ist hier ausschließlich trigonal-planar von Schwefel umgeben. Neben einer Reihe von Orthothioboraten existiert in der Verbindungsklasse der Orthoselenoborate hingegen nur das Tl3BSe3. Hier zeigt sich schon ein wichtiger Unterschied zwischen Bor-Schwefel- und Bor-Selen-Verbindungen. Letztere bevorzugen eindeutig die tetraedrische Koodination mit Chalkogenen und zeigen eine große Tendenz zur Ausbildung von Diselenidbrücken. Daher ist auch die Anzahl der Perselenoborate deutlich höher als die der Selenoborate.
Durch Eckenverknüpfungen von zwei
bzw. drei BS3-Einheiten gelangt man zu den
cyclischen Anionen [B2S4]2- und
[B3S6]3- mit jeweils zwei bzw.
drei exocyclischen Schwefelatomen. Im Cs2B2S4
konnte erstmals ein isoliertes [B2S4]2--Anion
röntgenographisch nachgewiesen werden. Dieses Anion
leitet sich von der dimeren Metathioborsäure H2B2S4
[64] ab. Die isolierte [B3S6]3--Anionen
enthaltenden Metathioborate lassen sich als Salze
der trimeren Metathioborsäure H3B3S6
[65,66] auffassen.
Auch in der Bor-Sauerstoff-Chemie treten derartige
isolierte Anionen häufig auf. Neben einer Reihe von
Orthoboraten sind zu der Reihe M3B3S6
(M = Na, K, Rb) die entsprechenden isotypen
Sauerstoffverbindungen bekannt.
Die Verbindungen Na2B2S5
und Li2B2S5,
in denen isolierte B2S5-Ringe
vorliegen, stellen die einzigen Vertreter der
Perthioborate mit trigonal-planar koordiniertem Bor
dar.
Top
b)
trigonal-planare und tetraedrische Koordination
Das einzige bisher gefundene
Thioborat mit trigonal-planarer und tetraedrischer
B-S-Koordination ist das BaB2S4.
Die Kristallstruktur besteht im wesentlichen aus
eckenverknüpften Tetraedern, die zusätzlich noch
über eine BS3-Einheit verbinden sind.
Vergleicht man diese Struktur mit der des SrB2S4,
so sind deutliche Ähnlichkeiten zu erkennen. Der
einzige Unterschied besteht darin, daß die
Ketten aus eckenverknüpften Tetraedern hier über
tetraedrische BS4-Einheiten verbunden sind.
Der Einbau des größeren Bariums führt dazu, daß
die Schichten des SrB2S4
auseinanderbrechen und sich Ketten bilden. Die Borate
AgBO2 [67] und TlBO2 [68]
besitzen einen vergleichbaren Aufbau zum
BaB2S4.
Top
c)
tetraedrische B-S-Koordination
Neben der trigonal-planaren Koordination des Bors
existiert auch eine Reihe von Thio- und Selenoboraten in
der tetraedrischen Koordination. Die Verknüpfung
dieser B(S/Se)4-Tetraeder läßt unterschiedlichste
Anionengerüste zu. Die Selenonoborate bevorzugen,
wie vorher schon erwähnt, die Ausbildung von Diselenidbrücken,
so daß vornehmlich Anionenketten aus
eckenverknüpften BSe4-Tetraedern mit zusätzlichen
Verknüpfungen über die Diselenidbrücken vorliegen.
Isolierte BS4-Tetraeder konnten bislang
nicht nachgewiesen werden, auch dimere oder trimere
Einheiten, wie die der trigonal-planar koordinierten
Bor-Schwefel/Selen-Verbindungen, sind nicht bekannt.
Das kleinste isolierte Anion mit tetraedrischer Umgebung
liegt im Pb4B4S10 vor, welches
aus vier BS4-Einheiten unter Bildung eines
kompakten, adamantanartigen [B4S10]8--Anions
entsteht. Die hohe formale Ladung wird dabei
wahrscheinlich durch kovalente Anteile der PbS-Bindung
gemindert.
Die weitere Kondensation von zehn BS4-Tetraedern
führt zum "Superadamantan", einem anderen
wichtigen Strukturelement der Thioborate. Diese
Makrotetraeder treten in der Bor-Schwefelchemie jedoch
nicht isoliert, sondern ausschließlich in polymeren
Verbänden auf.
In den Verbindungen Li6+2x[B10S18]Sx
(x = 2), Na6B10S18
und Ag6B10S18
existieren nebeneinander zwei sich durchdringende,
dreidimensional vernetzte Gerüste aus [B10S16S4/2]6--Anionen,
die nicht durch B-S-Bindungen miteinander
verbunden sind, was sich am Beispiel des Li6+2x[B10S18]Sx
(x = 2) gut erkennen läßt. Ähnliche Verhältnisse
liegen im Li5B7S13 vor, in
dem zusätzlich noch [B4S6S4/2]4--Adamantan-Einheiten
in das dreidimensionale Netzwerk eingebaut werden.
Eine etwas andere Art der Verknüpfung liegt im Li9B19S33
vor. Hier sind zwei "Superadamantan"-Einheiten
über ein gemeinsames BS4-Tetraeder zu
einem [B19S30S6/2]9--Anion
verbunden.
Diesen hochpolymeren Thioboraten ist das
Vorhandensein von ausgedehnten Hohlräumen in der Kristallstruktur
gemeinsam, in denen die Kationen relativ locker
eingelagert sind. Deutlich erkennbar sind in diesen
Verbindungen die Hohlräume, in denen das Lithium als
Kation eingelagert ist. 7Li-NMR-Untersuchungen
zeigen eine hohe Dynamik der kleinen Lithiumkationen
in diesen Verbindungen [23,40,47,55-61]. Das
läßt auf eine Kationenleitfähigkeit schließen,
die sie für den Einsatz als Festkörperelektrolyte interessant
macht.
Neben diesen dreidimensionalen
Netzwerken sind auch Schicht- und Kettenstrukturen der
Thio- und Selenoborate mit tetraedrischer Schwefel-
und Selenumgebung bekannt.
Die Verbindungen SrB2S4 und TlBS2
bilden Schichten aus kondensierten BS4-Tetraedern,
in denen neben den Ecken- auch Kantenverknüpfungen
vorliegen. Dies führt zu sterisch anspruchsvollen B2S2-Vierringen,
vergleichbar mit denen des B2S3, wo
allerdings das Bor trigonal-planar von Schwefel
umgeben ist.
In den Kristallstrukturen der Perchalkogenoborate RbBS3, CsBS3
und TlBS3 sind benachbarte,
eckenverknüpfte Tetraeder zusätzlich noch über
eine Disulfidbrücke verbunden. CsBSe3
ist isotyp zu diesen Perthioboraten: TlBSe3
kristallisiert in einer anderen Raumgruppe, zeigt aber
einen vergleichbaren Aufbau der Anionenkette.
Von den Verbindungen MBS3 leitet sich der
strukturelle Aufbau des K2B2S7,
K2B2Se7
und Na2B2Se7
sowie des Tl3B3S10
und Cs3B3Se10
ab. Hier wird in jeden zweiten bzw. dritten B2S3-Fünfring
der Anionenketten ein weiteres Chalkogenid eingebaut,
so daß ein B2(S2)2-Sechring
entsteht.
Top
d)
Bindunsverhältnisse
An dieser Stelle lassen sich die Unterschiede in den
Bindungslängen zwischen trigonal-planar und tetraedrisch
von Schwefel umgebenem Bor am Beispiel des BaB2S4
verdeutlichen. Die mittleren Abstände betragen für
die tetraedrische Koordination d(Btetr-S) = 1,926 Å
und für die trigonal-planare Koordination d(Btrig-Scyc)
= 1,823 Å sowie d(Btrig-Sexo) = 1,779 Å.
Die Verringerung der Bindungslängen der
trigonal-planar koordinierten B-S-Bindungen wird auf
steigende -Bindungsanteile zurückgeführt. Diese
Bindungslängen sind auch für die anderen Bor-Schwefel-Verbindungen
charakteristisch.
Top