Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Band 42 (2001): Der Dritte Sektor

Vorwort

Veränderungen in der politisch-sozialen Sprache kommen nicht von Ungefähr. Sie lassen sich in der Regel als Seismographen für Verschiebungen und Umbrüche in der gesellschaftlichen Realität interpretieren. Gleichzeitig wird mit der Begriffswahl immer auch – zumal auf dem Feld der politisch-sozialen Sprache – um Deutungsansprüche im Hinblick auf veränderte Sachverhalte gerungen. Der Begriff 'Dritter Sektor' und seine Karriere im sozialwissenschaftlichen und politischen Diskurs der letzten Jahre können als ein aktuelles und instruktives Beispiel für die angesprochenen Zusammenhänge gelten. Einerseits kommt in ihm ein breiter Komplex von Entwicklungen zur Sprache, die auf erschwerte Handlungsbedingungen und neue Grenzen politischer Macht und staatlicher Administration hinweisen. Die groben Etikettierungen des Wandels als Individualisierung auf der einen und Globalisierung auf der anderen Seite zeigen lediglich die Stoßrichtungen an, aus denen heute die Herausforderungen und Bewährungsproben für den territorial begrenzten Massenstaat kommen. Auf der Rückseite der vielfältigen Prozesse schmerzlicher Fremd- wie auch Selbstbegrenzung des Staates schiebt sich ein sozialer Raum bzw. Sektor in den Vordergrund, der aus der ihm zugedachten Rolle als passives und strukturloses Objekt staatlichen Handelns heraus drängt und auf einen wie immer gearteten Subjektstatus rekurriert. Welche Semantik im Diskurs um den Raum jenseits des Staates die Oberhand erhält und welche Begriffswahl sich durchsetzt, wird nicht ohne Rückwirkungen auf die weitere Entwicklung des Sektors bleiben.

Als problemanzeigender Begriff verweist die Rede vom 'Dritten Sektor' aber nicht nur auf Phänomene der Entzauberung des modernen Staates, sondern hat gewissermaßen auch eine zweite Erfahrung von Enttäuschung und Ernüchterung zum Bezugspunkt. Die vom Ende des Staatssozialismus her nahe liegende Erwartung, befreie man die Gesellschaft nur von den Fesseln eines hypertroph gewordenen Staates und überlasse man den Bedarf an Koordination und Kooperation allein dem freien Wettbewerb und Tausch von Marktanbietern und -nachfragern, so werde sich die jeweils bestmögliche Lösung von Problemen der Handlungskoordination und des Interessenausgleichs wie von selbst herstellen, hat sich ebenfalls nicht erfüllt. Die theoretisch wie empirisch radikalisierte und erweiterte Systemintegration über den Markt hat der Frage nach den Kräften der Sozialintegration eine neue Dringlichkeit gegeben. Der von den Finanzmärkten ausgehende Druck auf Wirtschaftsunternehmen, dem Profitmotiv verschärft Relevanz zu geben, hat der Bedeutung von Organisationen jenseits der Profitorientierung Nachdruck verliehen. Der bis in die Gegenwart hinein im gesellschaftlichen Test befindliche Versuch, der Marktsteuerung in den Feldern von Kultur, Bildung, Wissenschaft, sozialen Diensten und des Gesundheitswesens mehr Raum zu geben, hat auch den Grenzen einer Vermarktung gesellschaftlichen Lebens wieder schärfere Konturen gegeben. Welche konzeptionelle und begriffliche Fassung sich künftig für das Feld jenseits des Profitprinzips durchsetzen wird, lässt sich auch von dieser Seite her heute noch nicht absehen.

Neben der horizontalen Blickverschiebung über die Sphären von Wirtschaft und Politik hinaus steht hinter der Artikulation eines 'Dritten Sektors' auch eine neue Aufmerksamkeit für verschärfte gesellschaftliche Probleme auf der vertikalen Dimension. Die Gleise, auf denen sich Gesellschaft und Individuum bewegen, streben wie nie zuvor auseinander. Auf der einen Seite verschärft sich die Eigensinnigkeit der tragenden gesellschaftlichen Institutionen, so dass deren innere Logik offenbar nur noch vom distanzierten Beobachter mittels einer hoch abstrakten Systemtheorie einigermaßen begreifbar und einholbar erscheint. Auf der anderen Seite wachsen die Ansprüche der Individuen, die Welt der Institutionen den eigenen Interessen unmittelbar dienstbar zu machen und sich deren Sinnvorgaben nur dort zu Eigen zu machen, wo eine Verschränkung mit eigenen Sinnbezügen glaubwürdig nachvollziehbar erscheint. Entscheidende Bedeutung für die Möglichkeiten gesellschaftlicher Integration einerseits wie der Sinnhaftigkeit individueller Lebensführung andererseits erhält damit die Sphäre zwischen der Welt der Individuen, ihres persönlich-individuellen und familiären Lebens und der Welt der anonymisierten gesellschaftlichen Großinstitutionen. Intermediäre institutionelle Strukturen mit der Fähigkeit zur Vermittlung und zum Spannungsausgleich zwischen Individuum und Gesellschaft lassen sich damit als Engpass gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklung identifizieren. Mit der Rede vom 'Dritten Sektor' ist auch eine neue Aufmerksamkeit und die Suche nach einem angemessenen konzeptionellen und begrifflichen Zugang zur Sphäre eines 'Zwischen' in der vertikalen Dimension gesellschaftlichen Lebens angesprochen.

Mit dem vorliegenden 42. Band begibt sich das Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften mitten hinein in eine aktuelle, unabgeschlossene Diskussion von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz. Während in den Beiträgen selbst auch vom bürgerschaftlichen und ehrenamtlichen Engagement die Rede ist und ebenso die Begriffe Bürger- und Zivilgesellschaft aufgenommen werden, kommt im Titel 'Dritter Sektor' die Entscheidung für jenen Begriff zum Ausdruck, der die größte Offenheit besitzt und das zu Grunde liegende Problem sowohl in seiner horizontalen wie in seiner vertikalen Dimension zur Sprache zu bringen vermag. Der erste Teil des Bandes repräsentiert den gegenwärtigen empirischen und begrifflich-theoretischen Forschungsstand zum 'Dritten Sektor', nimmt aber gleichzeitig Bezug auf den Stellenwert des Konzepts innerhalb konkurrierender Politikansätze und verweist kritisch auf mögliche Einbruchstellen des fragilen Kartenhauses 'Dritter Sektor'. Der zweite Teil zeigt das breite Panorama an Konkretionen auf, das heute unter dem Dach 'Dritter Sektor' versammelt werden kann. Wie ein roter Faden durchzieht die Beiträge zu den einzelnen Feldern ein doppelter Bezug: die Aufarbeitung aktueller Forschungsentwicklungen und zentraler gesellschaftlicher Problemstellungen der Thematik 'Dritter Sektor' einerseits und die Aktualisierung von Anliegen und Orientierungen andererseits, die die Praxis, Lehrverkündigung und sozialethische Theorie des Sozialkatholizismus von Anfang an umgetrieben haben. Welche Fragen die Thematik 'Dritter Sektor' theologisch wie empirisch für den künftigen Ort der Kirche in der Gesellschaft aufwirft, darüber wird im letzten Beitrag des Bandes eine Debatte eröffnet.

Einem guten Brauch folgend enthält auch der Band 42 die Rubrik Berichte und gibt damit einen Einblick in aktuelle Diskussionsforen und Tagungen der Fachdisziplin. Nachdem der Deutsche Soziologentag des Jahres 2000 sich überraschend die Frage nach der 'Guten Gesellschaft' stellte, hat auch ein Bericht zum Soziologiekongress Aufnahme in den Band gefunden. Abgerundet wird der Band durch die Mitteilungen aus der deutschsprachigen katholischen Sozialethik, in denen laufende und abgeschlossene wissenschaftliche Arbeiten zur Sozialethik dokumentiert werden.

Ohne Glück- und Segenswünsche bliebe der Band unvollständig: Ihren 80. Geburtstag feiern in diesem Jahr die Kollegen Rudolf Henning und Richard Völkl, den 75. die Kollegen Walter Kerber und Wilhelm Korff und den 70. die Kollegen Heinrich Hamm und Ernst Nagel. Das Emeritierungsalter erreicht der Kollege Heinrich Pompey, und Alois Baumgartner feiert den 60. Geburtstag. Herzliche Segenswünsche für die jeweils neuen Lebensabschnitte!

Am Schluss bleibt mir, allen am Gelingen des Bandes Beteiligten einen aufrichtigen Dank auszusprechen: zunächst allen Autoren der Beiträge und Berichte, dann Herrn Hermann-Josef Große Kracht, der als neuer Assistent am Institut mit großem Elan die Redaktion des Bandes übernommen hat. Die EDV-Betreuung des Jahrbuchs ist geräuschlos in die kompetenten Hände von Bernd Mussinghoff übergegangen, der die Texte engagiert und souverän für die Drucklegung vorbereitete. Last not least sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Regensberg für die gewohnt zuverlässige und gute Zusammenarbeit gedankt.

Münster, im Januar 2001

Karl Gabriel

Inhaltsverzeichnis

I. Annäherungen

  • Annette Zimmer / Eckard Priller: Die zunehmende Bedeutung des Dritten Sektors – Ergebnisse des international vergleichenden Johns Hopkins Projektes
  • Marmann-Josef Große-Kracht: Politik mit dem 'Dritten Sektor'? Gesellschaft, Markt und Staat im Kontext korporativer, liberaler und zivilgesellschaftlicher Politikansätze
  • Friedhelm Hengsbach: Destruktives Pathos – Der Dritte Sektor braucht den Beifall der Staatsorgane nicht

Ehrenamt in der Bürgergesellschaft – Neue Aufbrüche

Wohlfahrtsverbände als intermediäre Solidaritätsschöpfer

Konträre Arbeitsformen im Ersten und Dritten Sektor

Dritter Sektor und Zivilgesellschaft in der Dritten Welt – Bolivien als Vorbild?

Nichtregierungsorganisationen im Wandel politischer Steuerungsprozesse – Zur Begründung einer Forschungsfrage

Ämter, Ehren und freies Engagement – Organisationsformen, Motivationsmuster und Akteurstypen innergemeindlich und überkonfessionell aktiver Kirche

Kirche im Dritten Sektor? Eine Warnung

Das Selbstverständnis der Christlichen Sozialethik

"Zwischen personalem Ethos und systemischem Zwang" - Bericht zum 10. Forum Sozialethik (04.09.-06.09.2000 in der Kommende, Dortmund)

Die Frage nach der guten Gesellschaft wird zur Frage nach der guten Gesellschaftswissenschaft

Mitteilungen aus der deutschsprachigen Sozialethik: Aktuelle Projekte