Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Band 39 (1998): Menschenrechte

Vorwort

Am 10. Dezember 1998 jährt sich der Geburtstag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen zum 50. Mal. Dies ist Anlaß genug, den vorliegenden Band des Jahrbuchs dem Rahmenthema Menschenrechte zu widmen und einige der heute brennenden Fragen der Theorie wie der Praxis der Menschenrechte im Gespräch zwischen christlicher Sozialethik, Jurisprudenz und Politikwissenschaft zu bearbeiten. Der Plan zu diesem Band wurde im wesentlichen von Franz Furger, dem im vergangenen Jahr verstorbenen Herausgeber, entwickelt. Dementsprechend haben Schriftleitung und Redaktion das Konzept realisiert. Bis zur Wiederbesetzung des Münsteraner Lehrstuhls liegt die herausgeberische Verantwortung für das Jahrbuch nun in der Hand des kommissarischen Direktors des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften.

Um die Vielschichtigkeit der Menschenrechtsfragen zwar exemplarisch, aber darin angemessen darstellen zu können, wurden die Beiträge in drei thematischen Teilen gruppiert.

Die Beiträge des ersten Teils beschäftigen sich mit der Systematik der Menschenrechte und ihrem Sitz im Leben. Johannes Hoffmann fragt nach den Voraussetzungen für eine gelingende interkulturelle Kommunikation über Menschenrechte. Er zeigt die Notwendigkeit zur Dekonstruktion universaler westlicher Geltungsansprüche wie des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der westlichen Demokratiemodelle auf, wenn auf der einen Seite die wirtschaftlichen Bedingungen zur Durchsetzung der Menschenrechte in anderen Kulturen verbessert werden sollen und auf der anderen Seite die kulturelle Identität der jeweiligen Völker geachtet werden soll. Am Moment der kulturellen Identität knüpft Bénézet Bujo an. Ausgehend von einer Kritik am Projekt "Weltethos" verdeutlicht er am Beispiel der afrikanischen Kultur die Bedeutung eines interkulturellen Menschenrechtsdiskurses, der die kulturelle Differenz ernst nimmt und verschiedene Wege zur Verwirklichung der Menschenrechte respektiert. Menschenrechte und ihre jeweiligen politischen Formen sind nicht von ihrer Praxis in Europa oder Nordamerika her zu beurteilen, sondern von ihrer Relevanz zur Entfaltung des Menschen als Menschen. Die Begründung einer kontextuell vermittelten, „relativen“ Universalität der Menschenrechte steht im Mittelpunkt des Beitrags von Rainer Tetzlaff. Die immer dichter werdende Vernetzung der Staaten untereinander läßt ideelle Normen der allgemeinen Verständigung zwischen den Staaten immer dringlicher erscheinen. Ein Kernbestand von Menschenrechten sei deshalb, so die These, für eine ethisch-rechtliche Fundierung der modernen Staatengemeinschaft zu fordern und böte eine Grundlage für die friedliche Koexistenz der Völker. Eine Verständigung über Menschenrechte als Bindeglied zwischen reicheren und ärmeren Staaten ist vor diesem Hintergrund unerläßlich, müßte aber zugleich die Überwindung von strukturellen Ungerechtigkeiten mit einschließen. Thomas Hoppe fragt angesichts schwerster Menschenrechtsverletzungen nach dem Beitrag, den christliche Sozialethik zur Aufarbeitung der Vergangenheit im Interesse der Aussöhnung zwischen Opfern und Tätern bzw. Zuschauern leisten kann, ohne Leid zu verharmlosen oder neues Unrecht zu schaffen. Er beschreibt die Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung der Vergangenheit und zeichnet Wege zur Versöhnung. Dabei kommt der christlichen Sozialethik die besondere Kompetenz und Verpflichtung zur, die Theodizeeproblematik zur thematisieren und vom eschatologischen Horizont christlichen Selbstverständnisses her auch angesichts der Katastrophen der Geschichte am menschlichen Vermögen zum Guten nicht zu verzweifeln.

Der zweite Teil enthält zwei Beiträge zum Problemkomplex Menschenrecht und Völkerrecht. Die Fortentwicklung des Minderheitenschutzes steht im Mittelpunkt des Beitrags von Georg Brunner. Er beschreibt und begründet die Notwendigkeit eines gruppenbezogenen, effektiven Minderheitenschutzes über die Gewährung individueller Minderheitenrechte hinaus, was aber bis heute an Opportunismus, nationalstaatlicher Interessenwahrung und teilweise Verlogenheit der Staatenpraxis scheitert. Dem Problem der Durchsetzung der Minderheitenrechte gilt der Beitrag von Konrad Hilpert. Ausgehend von der bestehenden Differenz zwischen der rechtlichen Anerkennung der Menschenrechte und ihrer tatsächlichen sozialen Beachtung fragt er nach den rechtlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Instrumentarien, um diese Differenz wenigstens tendenziell und fallweise zu schließen. Vorgesehen war außerdem ein Beitrag zur Judifizierung sozialer Menschenrechte, der jedoch leider kurzfristig abgesagt werden mußte.

Die Entwicklung der Menschenrechte sowie die Defizite ihrer Verwirklichung in der modernen Gesellschaft stehen im Mittelpunkt des dritten Teils. Matthias Gillner stellt den Beitrag Bartolomé de Las Casas für die Geschichte der Menschenrechte dar, dessen Verdienst vor allem im advokatorischen Eintreten für das Lebens- und Freiheitsrecht der Indianer besteht. Indem er sich anhand einer höchst virulenten konkreten Menschenrechtsfrage in den zeitgenössischen politiktheoretischen und anthropologischen Diskurs einschaltete, konnte er wirksam dazu beitragen, nicht nur strittige menschenrechtstheoretische Fragen zu klären, sondern auch das elementare Freiheitsrecht für die Indianer gegenüber der spanischen Krone erstreiten. Gegenüber diesem, einen Markstein in der Geschichte der Menschenrechtsentwicklung erinnernden Beitrag beleuchten die beiden folgenden Beiträge Defizite und Desiderate der Menschenrechte in der modernen Gesellschaft: Marianne Heimbach-Steins und Claudia Lücking-Michel gehen der Bestimmung von Frauenrechten als Menschenrechten nach, wie sie auf der Vierten Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking proklamiert wurde, und nehmen damit die Debatte um Universalität und Partikularität von Menschenrechten erneut auf. Die Brisanz der dabei angesprochenen Fragen wird exemplarisch deutlich anhand des – in seinem menschenrechtlichen Status noch umstrittenen – Rechtes auf Entwicklung und seiner besonderen Relevanz für Frauen. Der Bedeutung der Menschenrechte für die moderne Gesellschaft wendet sich Günter Wilhelms zu. Angesichts der Integrationsproblematik moderner Gesellschaften geht es, so seine These, nicht mehr in erster Linie um die Idee der Abwehr gegen staatliche Machtansprüche, sondern es muß darum gehen, die Freiheitsrechte mit Hilfe der Gestaltungsrechte zu interpretieren.

In der Rubrik Berichte stellt Ulrike Fell die konkrete Menschenrechtsarbeit bei Amnesty International vor. Sie gibt einen Einblick in die Organisationsstruktur und die Arbeitsweise der Organisation. Ein weiterer Bericht, der die kirchliche Menschenrechtsarbeit von Justitia et Pax darstellen sollte, wurde bedauerlicherweise ebenfalls kurzfristig abgesagt. Stefan Lunte zieht aus sozialethischer Sicht eine Bilanz der bisherigen Wirkungsgeschichte der Sozialcharta des Europarats, nachdem beim EU-Gipfel von Amsterdam (Juni 1997) auch Großbritannien als letztes der derzeitigen EU-Mitglieder der Charta beigetreten ist. An diese dem Rahmenthema zugeordneten Berichte schließt sich Matthias Sellmanns Bericht über die siebte Tagung des Forum Sozialethik an, die der Reflexion auf den Konsultationsprozeß und das Gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage gewidmet war. Wie in jedem Jahr schließen die Mitteilungen aus der deutschsprachigen Sozialethik den Band ab; sie seien der Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser besonders empfohlen.

Unsere herzlichen Segenswünsche gelten den emeritierten Kollegen Friedolin Utz zum 90., Anton Rauscher und Rudolf Weiler zum 70. Geburtstag, sowie den Kollegen Valentin Zsifkovits zum 65. und Lothar Schneider zum 60. Geburtstag. Am 7. März 1997 verstarb kurz vor seinem 65. Geburtstag der in Mainz tätige Kollege Martin Rock. Sein Arbeits- und Forschungsschwerpunkt lag im Gebiet der ökologischen Ethik. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Dank gesagt sei allen, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben: allen voran den Autorinnen und Autoren, sodann Frau Judith Wolf, die als Redaktionsassistentin am ICS die Betreuung des Bandes zuverlässig besorgt hat, und Herrn Wolfgang Stübbe, der die EDV-Bearbeitung der Manuskripte übernommen hat, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages Regensberg für die verläßliche und stets unkomplizierte Zusammenarbeit.

Münster, im Januar 1998

Antonio Autiero,
Marianne Heimbach-Steins

Inhaltsverzeichnis

I. Sitz ium Leben und Systematik der Menschenrechte

  • Johannes Hoffmann: Das eine Menschenrecht für alle und die vielen Lebensformen
  • Bénézet Buji: Welches Weltethos begründet die Menschenrechte?
  • Rainer Tetzlaff: Modernisierung und Menschenrechte aus politikwissenschaftlicher Sicht. Zur Begründung einer relativen Universalität der Menschenrechte
  • Thomas Hoppe: „Leben trotz Geschichte“? Über Prozesse politischer und sozialer Transformation in postautoritären Gesellschaften

Menschenrechte von Minderheiten: Individualrechte, Gruppenrechte oder Selbstbestimmungsrecht?

Hehre Theorie - entmutigende Praxis? Das Problem der Durchsetzung der Menschenrechte

Bartolomé de Las Casas und die Menschenrechte

Frauen-Menschen-Rechte. Universalität und Partikularität von Frauenrechten am Beispiel des Rechtes auf Entwicklung

Die Bedeutsamkeit der Menschenrechte als Gestaltungsrechte in der modernen Gesellschaft

amnesty international (ai) - von der Kampagne für die Menschenrechte zur Menschenrechtsorganisation

Die „Sozialcharta“ der Europäischen Gemeinschaft – eine Bilanz aus sozialethischer Sicht

„Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ Das Gemeinsame Wort der Kirchen – Meilenstein oder Selbstüberschätzung kirchlicher Sozialverkündigung? Bericht über die 7. Tagung des Forums Sozialethik

Mitteilungen aus der deutschsprachigen Sozialethik: Aktuelle Projekte

Eingegangene Bücher