Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Band 37 (1996): Technikethik

Vorwort

Der 37. Band des Jahrbuchs ist dem Themenkomplex "Technikethik" gewidmet, sicher einem der wichtigsten Zukunftsthemen, denen sich eine christliche Sozialethik stellen muß. Freilich kann sie gerade einen solchen Bereich sinnvoll nur interdisziplinär, in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften - von der Philosophie über die Naturwissenschaften und die Medizin bis hin zu den Ingenieurwissenschaften - bearbeiten. Diesen besonderen Anforderungen des Themas trägt der Band Rechnung indem er Beiträge aus dem Feld der Sozialethik mit solchen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anderer Disziplinen (Philosophie, Soziologie/Psychologie, Biologie) versammelt.

Angesichts der Komplexität des Themas sind die Beiträge drei Untergruppen zugeordnet. Die erste Gruppe thematisiert sozialwissenschaftliche, sozialethische und philosophische Aspekte des Umgangs mit Technik und Technikfolgen. Peter Michael Wiedemann untersucht die Kriterien der Wahrnehmung und Beurteilung technischer Risiken in der Gesellschaft, also Technikbeurteilung durch Laien im Unterschied zu Technikbeurteilung durch Experten. Er zeigt, daß darin andere Prioritäten greifen, die z.B. mit der Transparenz, der Durchschaubarkeit und der Bekanntheit von Risiken zu tun haben, nicht zuletzt also mit der Frage, inwiefern und in welchem Maße tatsächlich oder potentiell Betroffene an Entscheidungen über die Einführung oder Anwendung bestimmter Techniken partizipieren können. Diese empiriebezogenen Überlegungen im Blick zu haben, ist gerade auch für die folgenden, sozialethischen und philosophischen Entwürfe einer vorausschauenden Beurteilung von Technik und ihren Folgen bedeutsam, insofern über die politische Relevanz solcher Forschung und über ihre Umsetzbarkeit noch einmal eigens nachgedacht werden muß. Dieses Anliegen nimmt Hans-Joachim Höhn auf, indem er - v.a. im Rückgriff auf die einschlägigen Forschungen Ulrich Becks - einen Entwurf von "Technikethik als Risikoethik" vorlegt und dabei auch nach Urteils- und Entscheidungskriterien für eine öffentlich zu führende und abstützende Diskussion um die Akzeptanz von Technik fragt. Bernhard Irrgang unternimmt demgegenüber eine neue Standortbestimmung der Technikphilosophie: er problematisiert als Paradigma "Technikfogenabschätzung" und überschreitet es auf das neue Paradigma "Technologiegestaltung" hin; für einen solchen prospektiven Ansatz entwirft er das Programm einer Technikhermeneutik als Methodenlehre von Technikphilosophie. Hans-Dieter Mutschler befaßt sich mit den ethischen Problemen virtueller Realitätserzeugung und des radikalen Konstruktivismus und zeigt, wie durch eine mit der Computertechnologie ermöglichte, völlige Neubestimmung des Begriffs der Wirklichkeit der Gesichtspunkt der Ethik ausgeblendet wird.

In der zweiten Gruppe von Beiträgen steht die Frage nach Dimensionen und Subjekten der Verantwortung für Gestaltung und Beurteilung von Technik im Vordergrund. Hans Lenk und Matthias Maring skizzieren einen mehrdimensionalen Verantwortungsbegriff und zeigen dann anhand der VDI-Richtlinie 3780 "Technikbewertung: Begriffe und Grundlagen" inhaltliche Kriterien und Wege der Institutionalisierung von Technikverantwortung im notwendigen Zusammenwirken verschiedener Träger aus Wissenschaft und Politik. Während dieser Beitrag das komplette Szenario der Umsetzung von Technikverantwortung im wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Handeln entwirft, greift Stephan Feldhaus mit der Verantwortung der wissenschaftlichen Gutachter einen speziellen Aspekt heraus. Dabei gewinnen neben der unerläßlichen Sachkompetenz Aspekte wie Wahrhaftigkeit und persönliche Glaubwürdigkeit hohe Bedeutung. Feldhaus nimmt damit einen Gedanken wieder auf, der bereits in den Überlegungen von Wiedemann zur Wahrnehmung von technischen Risiken in der Gesellschaft angeklungen war: Je mehr die "Laien" in Bezug auf das technische Wissen auf Expertenkompetenz angewiesen sind, desto höher werden zugleich die berechtigten Ansprüche an deren persönliche Integrität und - als Kehrseite - die Skepsis gegenüber Voreingenommenheit und Interessengeleitetheit der Fachleute.

Die dritte Gruppe von Beiträgen versammelt exemplarisch ausgewählte Überlegungen zu bestimmten Anwendungsfeldern von Technikverantwortung. Johannes Hoffmann stellt ein in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe entwickeltes Verfahren des ethisch-ökologischen Ratings vor. Technikforschung als sozialer Prozeß wird hier konkret im Kontext der Wirtschaftsethik angesiedelt. Die folgenden Beiträge erörtern Probleme im Bereich der Gentechnik: Aus naturwissenschaftlicher Sicht stellt Barbara Skorupinski am Beispiel der Freisetzung und Kommerzialisierung von gentechnisch veränderten Mikroorganismen und Pflanzen den Einsatz der Gentechnik in der Landwirtschaft vor und entwickelt Kriterien der ethischen Bewertung. Hans-Jürgen Münk stellt in seinem Beitrag die zentralen Argumentationsmuster pro und contra somatische Gentherapie dar und unterzieht sie aus der Sicht des theologischen Ethikers einer kritischen Kommentierung. Johanna Bödege-Wolf reflektiert am Beispiel der Abfallwirtschaft die Zusammenhänge zwischen Technikfolgenabschätzung und Technikakzeptanz in der Bevölkerung und knüpft damit erneut an die sozialwissenschaftlichen Überlegungen von Peter Michael Wiedemann an.

Wie üblich werden die Beiträge durch einige Berichte ergänzt, die dem Rahmenthema zugeordnet sind. In diesem Band stellen die thematischen Berichte Projekte interdisziplinärer Technikforschung vor: Marcus Düwell stellt das Forschungsprojekt "Ethik in den Wissenschaften" an der Universität Tübingen vor. Ludwig Siep berichtet über ein Forschungsprojekt der Arbeitsgemeinschaft Bioethik des Landes Nordrhein-Westfalen. Helmut Gebauer skizziert die Forschungsschwerpunkte des Zentrums für Interdisziplinäre Technikforschung an der Technischen Universität Dresden.

Außerdem legt Ursula Wollasch in der Rubrik Berichte eine Zwischenbilanz zum Forschungsprojekt "Normenkodizes in Unternehmen und Verbänden" am ICS vor (vgl. dazu auch JCSW 36 (1995)), und Johanna Bödege-Wolf und Marianne Heimbach-Steins berichten über die sechste Tagung des "Forum Sozialethik", die dem Tehmenkomplex sozialethische Frauenforschung und feministische Ethik gewidmet war.

Aus gegebenem Anlaß wird in diesem Band auch die Rubrik "Diskussion" wieder eröffnet: Sie bietet einen Grundsatz-Artikel von Franz-Xaver Kaufmann über "die Herausforderung christlicher Sozialethik durch moderne Gesellschaftstheorie". Es handelt sich dabei um die überarbeitete Fassung des Festvortrags, den Kaufmann am 20. Januar 1995 anläßlich der Feier des 60. Geburtstags von Franz Furger in Münster gehalten hat. Der Beitrag schien uns als Diskussionsangebot an die Vertreter und Vertreterinnen der christlichen Sozialethik wegweisend; wir freuen uns daher, daß Franz-Xaver Kaufmann das Manuskript zur Veröffentlichung im Jahrbuch zur Verfügung gestellt hat, und laden ein, dieses Diskussionsangebot aufzunehmen. Wie in jedem Jahr schließen die Mitteilungen aus der deutschsprachigen Sozialethik den Band ab; sie seien der Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser besonders empfohlen.

Am 27. August 1995 verstarb in Münster Pater Hermann Josef Wallraff SJ im Alter von 81 Jahren. Als Professor für Gesellschafts- und Wirtschaftslehre in Sankt Georgen (1964-1982) vertrat er dort neben Oswald von Nell-Breuning die christliche Sozialethik und war ein wichtiger Gesprächspartner für Politik und Gewerkschaften. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Unsere herzlichen Glück- und Segenswünsche sowie der Dank für ihren Einsatz im Dienst der christlichen Sozialethik gelten in diesem Jahr besonders den emeritierten Kollegen Joachim Giers zum 85. Geburtstag, Richard Völkl und Rudolf Henning zum 75. Geburtstag.

Dank gesagt sei allen, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben: allen voran den Autorinnen und Autoren, sodann Frau Judith Wolf (vormals Eich), die als Redaktionsassistentin im ICS die Betreuung des Bandes zuverlässig besorgt hat, und den Mitarbeitern des Verlags Regensberg für die verläßliche und unkomplizierte Zusammenarbeit.

Münster, im Januar 1996

Franz Furger,
Marianne Heimbach-Steins

Inhaltsverzeichnis

I. Sozialwissenshaftliche und sozialethische Ansätze

  • Peter M. Wiedemann: Wahrnehmungsmuster von technischen Risiken in der Gesellschaft
  • Hans-Joachim Höhn: Technikethik als Risikoethik. Ansätze einer sozialethischen Risikobeurteilung
  • Bernhard Irrgang: Von der Technologiefolgenabschätzung zur Technologiegestaltung. Plädoyer für eine Technikhermeneutik
  • Hans-Dieter Mutschler: Ethische Probleme der virtuellen Realitätserzeugung und des radikalen Konstruktivismus

Ethische Probleme der virtuellen Realitätserzeugung und des radikalen Konstruktivismus

Unsicherheitsbewältigung durch Expertenkompetenz? Ansätze einer Gutachterethik

Technikforschung als sozialer Prozeß am Beispiel des Forschungsprojekts: Ethisch-ökologisches Rating (=EÖR)

Die Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen als Strategie der biologischen Schädlingsbekämpfung: Aspekte ihrer ethischen Bewertung

Die somatische Gentherapie in der Diskussion. Ethischer Kommentar zu zentralen Argumentationsmustern

Technikfolgenabschätzung und Akzeptanz in der Abfallwirtschaft

Die Herausforderung christlicher Sozialethik durch moderne Gesellschaftstheorie

Zur Arbeit des Zentrums für "Ethik in den Wissenschaften" an der Universität Tübingen

Zur Arbeit des Zentrums für "Ethik in den Wissenschaften" an der Universität Tübingen

Forschungsfelder des Zentrums für Interdisziplinäre Technikforschung der TU Dresden

Das VW-Projekt "Normenkodizes in Unternehmen und Verbänden" – eine Zwischenbilanz

Fragen feministischer Ethik. Bericht über die 6. Tagung des Forum Sozialethik

Mitteilungen aus der deutschsprachigen Sozialethik: Aktuelle Projekte

Eingegangene Bücher