Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Band 35 (1994): Flucht – Asyl – Migration

Vorwort

"Flucht - Asyl - Migration" - mit diesen Stichworten ist einer der brisantesten Problemkomplexe gegenwärtiger (Welt-)Politik angedeutet. In der Bundesrepublik Deutschland sind die damit verbundenen Fragen von Einwanderung, Asylgewährung, Ausländerpolitik durch den erschreckenden Zuwachs ausländerfeindlicher Aktionen und rechtsradikaler Propaganda sowie durch die Neuregelung des Asylrechtes im Jahr 1993 in das öffentliche Bewußtsein gehoben. In Medien, Politik und Wissenschaft wird das Thema mit wachsender Intensität, wenn auch auf denkbar unterschiedlichen Reflexionsebenen und mit disparaten Interessen, behandelt.

Die damit verbundenen komplexen Fragen menschenrechtlicher, sozialpolitischer, wirtschaftlicher Art verbieten einfache Lösungen eines Problems, das wie kaum ein anderes die weltweite Vernetzung politischer Zusammenhänge spiegelt. Angesichts wachsender Not führt es die Notwendigkeit der Einlösung politischer und humanitärer Verantwortung der Industrieländer des Nordens gegenüber den Ländern des Südens und des Ostens unausweichlich vor Augen.

In diesem Jahrbuch sollen zentrale Aspekte der Problematik entfaltet werden. Um die im Rahmen des Bandes erforderliche inhaltliche Konzentration zu ermöglichen, wird die Situation in Deutschland unter Einbezug der europäischen Perspektive beleuchtet und sozialethisch reflektiert. Dies geschieht in drei thematischen Schwerpunkten: In einer ersten Gruppe von Beiträgen sollen "Phänomenologische Orientierungen" zur gegenwärtigen Problemlage und ihrer Genese vermittelt werden. Hartmut Reichow entwirft in seinem einleitenden Beitrag "gegenwärtige Wanderungsbewegungen und Prognosen für Deutschland" ein Panorama der derzeitigen Situation. Daran anschließend beleuchtet Uwe Berndt das Thema "Zuwanderung im neuen Europa: Migrationsmuster und Migrantengruppen" in einer vertiefenden Analyse. Die beiden folgenden Beiträge befassen sich demgegenüber mit konkreten Auswirkungen bzw. Reaktionen auf die gegebene Wanderungssituation in Deutschland: "Spannungsfelder des Zusammenlebens" zwischen Zuwanderern und Deutschen untersucht der Beitrag von Beate Winkler. Die aktuelle rechtliche Situation sowie Desiderate rechtlicher Regelung stellt der Beitrag von Norbert Brieskorn dar.

Eine zweite Gruppe von Beiträgen ist human- und gesellschaftswissenschaftlichen Analysen gewidmet. Die sozialpsychologische Problematik von "Identität und Fremdheit" beleuchten Bernd Schäfer und Bernd Schlöder. Wolfgang Klauder untersucht die Frage der Wechselwirkungen zwischen der Arbeitsmigration nach Deutschland und der Sicherung des Sozialsystems angesichts des Altersaufbaus der deutschen Bevölkerung. Der vorgesehene Beitrag zu dem sozialethisch sehr wichtigen Thema "Ausländer und neue Armut. Anfragen an die deutsche Ausländer- und Sozialpolitik" konnte nicht rechtzeitig fertiggestellt werden, da sich die Spezialauswertung "Migranten" aus der Caritas-Armutsuntersuchung verzögerte und die Kopnsequenzen zum Redaktionsschluß vom Deutschen Caritasverband noch nicht hinreichend diskutiert waren.

Gegenüber diesem sozialpolitisch nach "innen" gerichteten Gesichtspunkt analysiert Johannes Müller die Zusammenhänge zwischen weltweiter Migration und Entwicklungszusammenarbeit und erweitert damit die Perspektive auf die globale politische Verantwortung angesichts der gegenwärtigen (und der zukünftig zu erwartenden) Migrationsbewegungen.

Im Anschluss an die empirischen und gesellschaftswissenschaftlichen Situationsbeschreibungen und -analysen vereinigt die dritte Gruppe der Beiträge einige Bausteine zur Grundlegung einer Migrationsethik im Horizont christlicher Sozialethik. Zunächst skizziert Georg Steins bibeltheologische Impulse zum Umgang mit dem Fremden. Christoph Lienkamp geht der Möglichkeit einer ethischen Transformation der Wahrnehmung des "Anderen" und Fremden in Ansätzen gegenwärtiger Sozialphilosophie nach. Hans Tremmel schließlich diskutiert die Frage des Asylrechts - vor dem gegenwärtigen politischen Hintergrund unter menschenrechtlichem Gesichtspunkt.

Die beiden Berichte von Albert Peter Rethmann über kirchliche Stellungnahmen zur Asyl- und Migrationspolitik und von Eugen Baldas zu den durch die Zuwanderung bedingten caritativen Aufgaben sowie die Aktuelle Glosse von Gesine Schwan ordnen sich den Beiträgen ergänzend zu. Weiterhin finden sich in der Rubrik Berichte ein Artikel von Ursula Wollasch über den Fortgang des am Institut für Christliche Sozialwissenschaften bearbeiteten Forschungsprojektes "Normenkodizes in Unternehmen und Verbänden", ein Résumé der Ringvorlesung zum Jubiläum des 1893 gegründeten Münsteraner Lehrstuhls, sowie ein Bericht über die letztjährige Tagung des "Forum Sozialethik" aus der Feder von Markus Vogt und André Habisch.

Dem Kollegen Theodor Herr gelten unsere herzlichen Segenswünschen zum 65. Geburtstag. Allen, die zum Gelingen des Jahrbuch-Bandes beigetragen haben, zunächst den Autorinnen und Autoren, ebenso aber auch den Mitarbeitern des Verlages Regensberg, sei an dieser Stelle herzlich Dank gesagt.

Münster, im Januar 1994

Franz Furger,
Marianne Heimbach-Steins

Inhaltsverzeichnis

I Phänomenologische Orientierungen

  • Hartmut Reichow: Gegenwärtige Wanderungsbewegungen und Prognosen für Deutschland
  • Uwe Berndt: Zuwanderung im neuen Europa: Migrationsmuster und Migrantengruppen
  • Beate Winkler: Spannungsfelder des Zusammenlebens
  • Norbert Brieskorn SJ: Asylrecht – Ausländergesetzgebung – Einwanderungsrecht. Fakten und Desiderate in Bezug auf den rechtspolitischen Umgang mit der Migrationsproblematik in Deutschland

 II. Human- und gesellschaftswissenschaftliche Analysen

  • Bernd Schäfer/Bernd Schlöder: Identität und Fremdheit. Sozialpsychologische Aspekte der Eingliederung und Ausgliederung des Fremden
  • Wolfgang Klauder: Zuwanderung – Ballast oder Stütze? Zu den Auswirkungen einer Zuwanderung auf Arbeitsmarkt, Wirtschaft und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland
  • Johannes Müller: Weltweite Migrationen und globale Entwicklungszusammenarbeit. Überlegungen zur Notwendigkeit und zu einer Politik langfristiger Migrations- und Fluchtursachenbekämpfung

Grundlagen einer Migrationsethik im Horizont Christlicher Sozialethik

  • Georg Steins: »Fremde sind wir ...« Zur Wahrnehmung des Fremdseins und zur Sorge für die Fremden in alttestamentlicher Perspektive

    Christoph Lienkamp: Der/die/das Andere bzw. Fremde im sozialphilosophischen Diskurs der Gegenwart – Eine Herausforderung der theologischen Sozialethik

    • Hans Tremmel: Menschenrechtliche Aspekte der Diskussion um das Asylrecht: Gnadenrecht der souveränen Staaten oder individuelles Menschenrecht der politisch Verfolgten?

Berichte

  • Albert Peter Rethmann: Kirchliche Stellungnahmen zur Asyl- und Migrationspolitik
  • Eugen Baldas: Integration als Aufgabe verbandlicher Caritas
  • Ursula Wollasch: Normenkodizes in Unternehmen und Verbänden – ein Forschungsbericht
  • Christliche Sozialethik im Gespräch mit anderen theologischen Disziplinen. Bericht über eine Ringvorlesung an der Katholisch-theologischen Fakultät Münster im Sommersemester 1993
  • Markus Vogt/Andre Habisch: Gerechtigkeitstheorien: Normative Grundlagen und exemplarische Anwendung am Beispiel des Nord-Süd-Konfliktes. Bericht über die vierte Tagung des »Forum Sozialethik«

Die aktuelle Glosse

  • Gesine Schwan: Der Chauvinismus als Fratze ausbleibender Heimat

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