Der Reiz des Archivs - ein Workshopbericht

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leicht verändert abgedruckt in: Der Archivar 2016:2, S. 169-171.

In Kooperation mit dem Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen, veranstaltete das ZeTeK vom 16. bis 18. Februar 2016 einen interdisziplinären Methodenworkshop unter dem Motto „Der Reiz des Archivs“. In ihrer Begrüßung hob die Gastgeberin Mechthild Black-Veldtrup, Leiterin der Abteilung Westfalen, das in jeder Hinsicht vielseitige Teilnehmerfeld hervor. Doktoranden, Master- und Bachelorstudenten, Historiker, Rechtshistoriker, Archivare aus Münster, Hamburg, Kiel, Paderborn, Duisburg und Essen - insgesamt fünfundzwanzig Studenten und zehn Dozenten - hatten sich in den Räumen des Landesarchivs am Bohlweg versammelt. In Kleingruppen sollten sie ganz unterschiedliche archivalische Quellen des Mittelalters und der Neuzeit bearbeiten. Um Forschung und Lehre über das Handwerkliche hinaus zu verknüpfen, boten regelmäßige Plenumssitzungen die Möglichkeit, grundsätzliche Fragen zu diskutieren. Hierzu hatten die Lehrenden Impulsreferate vorbereitet, wodurch der Workshop zeitweise den Charakter einer wissenschaftlichen Tagung erhielt.

ZeTeK-Sprecher Jan Keupp eröffnete den Workshop mit einem kurzweiligen Vortrag, in dessen Mittelpunkt zwei Fragen standen: Was macht den Zauber archivalischer Originalquellen aus, und welchen ‚Mehrwert‘ hat das Original im Vergleich zu Edition oder Digitalisat? Im Anschluss an solche grundsätzlichen Überlegungen begaben sich die Teilnehmer erstmals ‚ad fontes‘. Vier Arbeitsgruppen widmeten sich über den Tag verteilt jeweils einem Thema. Im Fokus standen unter anderem frühneuzeitliche Prozessakten, gelehrte Handschriften und Spionageberichte aus dem Spätmittelalter. Eine Plenumsdiskussion sorgte während dieses intensiven Quellenstudiums für Abwechslung. Unter der Überschrift ‚Transkription und Normalisierung von Textzeugnissen‘ konnte dieses Panel an die ersten Eindrücke und Erfahrungen der Arbeitsgruppen anknüpfen. Peter Oestmann eröffnete die Debatte, indem er Vielzahl der Entscheidungen veranschaulichte, die einem Bearbeiter bei der Transkription einer handschriftlichen Quelle abverlangt werden: Wie geht man mit Abkürzungen um? Wie mit fremdsprachigen Passagen oder Ausdrücken, insbesondere Latein? Wo schreibt man groß, wo klein; welche Wörter trennt man, welche zieht man zusammen? Dass solche editionstechnischen Fragen keinesfalls banal sind, zeigte die folgende Diskussion. Einen allgemeinverbindlichen Editionsmaßstab, so der Tenor, kann es nicht geben. Will man „quick und dirty“ arbeiten, wie der Archivar Wilfried Reininghaus es empfiehlt, oder diplomatisch exakt, wie es die Philologen stets fordern? Diese Entscheidung hängt an der Fragestellung, die man verfolgt, und dem Leserkreis, den man ansprechen will. Den Blick ins Original soll und kann eine Edition nicht vollständig ersetzen. Dem Historiker geht es vor allem darum, der Fachöffentlichkeit den Zugang zu den Quellen zu erleichtern. Über die bloße Wiedergabe des Textes hinaus, wird es dann umso wichtiger, ihn mithilfe von Registern und Erläuterungen zu erschließen. Darüber sollte man jedoch nicht den Mut zu komplexeren Editionen verlieren. Jede Entscheidung während der Edition und Kommentierung einer Originalquelle stellt bereits eine Interpretation dar. Deshalb verbieten sich übermäßige Vereinfachungen: Im Einzelfall ist genau abzuwägen, wie man bei der Übertragung dem Original gerecht werden kann.

Der zweite Tag begann mit einem Referat von Mechthild Black-Veldtrup, in dem sie die Grundlagen der Archivierung und Überlieferungbildung erläuterte. Neben einer Einführung in die Institution ‚Archiv‘, die den Nachwuchsforschern im Saal ganz handfeste Hilfestellungen bot, gewährte der Vortrag einen lebensnahen Einblick in den Arbeitsweise der Archivarin. Die anschließende Diskussion widmete sich dann besonders intensiv der Frage nach der Macht der Archivare. Da es unmöglich ist, alle Dokumente und Papiere aufzubewahren, gehört es zu den Kernaufgaben des Archivars, zu entscheiden, was überliefert, und vor allem auch, was nicht überliefert werden soll.. Wenn nur etwa ein Prozent des Materials seinen Weg in die Depots finde, so das Argument, dann prägten die Archivare das Bild zukünftiger Generationen über ihre Vergangenheit, die heute unsere Gegenwart ist, ganz entscheidend mit. Diese Vorstellung vom Archivar als Herr über die zukünftige Geschichte wurde in der Debatte zurecht gerückt, insbesondere mit dem Hinweis auf archäologische Zeugnisse und die zunehmende Menge „privater“, auch gerade digitaler Überlieferungen. Die Diskussion führte an dieser Stelle vor Augen, dass das Verhältnis von Historikern und Archivaren nicht frei von Spannungen ist. Historiker, so die Archivare, nähmen oft die praktische Notwendigkeit nicht wahr, die Überlieferungsbildung streng zu handhaben, um nicht in Material zu ertrinken.

Im Anschluss an die Diskussion ging es in die Arbeitsgruppen, in denen erneut ein bunter Strauß von Themen geboten wurde. Die einen beschäftigten sich mit den Tagebüchern Ludwig Vinckes, des ersten Oberpräsidenten der Provinz Westfalen, die anderen mit Verwaltungsschriftgut der französischen Krone aus dem 13. Jahrhundert. Eine dritte Gruppe widmete sich der Überlieferung eines spätmittelalterlichen Viehraubs, eine vierte der Familienchronik des im holländisch-deutschen Grenzraum lebenden Sweder Schele, die der Niederadelige während des Dreißigjährigen Krieges verfasst hat. Die zweite Plenumssitzung des Tages zum Thema ‚Querlesen von Quellen‘ fand am frühen Nachmittag statt. Sie stand zunächst ganz im Zeichen der Methode, weitete sich aber rasch zur Grundsatzdebatte über die Stellung der Hilfswissenschaften im Geschichtsstudium. Der Archivar Gunnar Teske demonstrierte in seinem Impulsreferat den unmittelbaren Nutzen der Aktenkunde für die Quellenerschließung anhand einiger weniger Faustregeln. Die Mediävistin Sita Steckel ergänzte diese frühneuzeitliche Perspektive durch eine ebenso handfeste Einführung in die Kodikologie des Mittelalters. Beide Referate stießen bei den Teilnehmern auf großes Interesse. In der anschließenden Diskussion beklagten gerade die studentischen Beiträge das schlechte Standing der Hilfswissenschaften im Studium. Aus dem Kreis der Lehrenden äußerte sich der eine oder andere skeptisch bis resignierend, die große Mehrheit der Studenten sei nicht mehr bereit und kompetent, sich mit Originalen auseinanderzusetzen. Die Hilfswissenschaften würden immer weniger nachgefragt. Auf diesen veränderte Marktsituation müsse man reagieren, da man als Ausbildungsfach für Lehrer in der Verantwortung stehe, die ‚Masse‘ effektiv zum Examen führen zu können. Diese Einschätzung provozierte regen Widerspruch bei Studenten wie Lehrenden. Die hier aufgeworfene Frage nach der Studierbarkeit der Hilfswissenschaften sollte dann in der Abschlussdiskussion am folgenden Tag erneut aufgegriffen werden.

Am Donnerstagvormittag standen jedoch zunächst planmäßig zwei Themen im Vordergrund, die die zu Beginn eingeführten Leitfragen aufgriffen: Georg Jostkleigrewe ging der Frage nach, wie die Archive unsere Wahrnehmung des historischen Geschehens prägen. Jan Keupp fragte danach, welche Rolle Emotionalität und Materialität im historischen Erkenntnisprozess spielen. Am Beispiel der Überlieferung zur französischen Fehdepraxis zeigte der Mediävist Jostkleigrewe eindrücklich, wie Historiker mit der Perspektive auch die blinden Flecken und Wahrnehmungsfilter des Materials übernehmen, auf das sie sich stützen. Die folgende Diskussion machte deutlich, dass solche erkenntniskritischen Überlegungen zu einer gesunden Verunsicherung führen können. Sie schärft den Blick für die Aussagekraft eines Quellenkorpus. Im letzten Panel des Workshops führte Jan Keupp die Diskussionsfäden zusammen, indem er noch einmal nach dem Nutzen und dem Reiz des Originals fragte. Der Linguistic turn hat unser Augenmerk auf die sprachliche Verfasstheit unserer Quellen gelenkt. Ihre physische Manifestation, ihre Materialität, geriet darüber aber beinahe in Vergessenheit. Damit hat man sich zahlreicher Erkenntnismöglichkeiten beraubt und die Entwicklung neuer Fragestellungen blockiert. Zum Beispiel lässt sich bereits aus einem winzigen Detail, das im Digitalisat blass bleibt oder gar nicht zu erkennen ist, mithilfe diplomatischer oder aktenkundlicher Kenntnisse ein ganzer Ereignisverlauf rekonstruieren. Zuletzt besitzt die Arbeit mit dem Original auch stets eine emotionale Komponente. Das Schriftstück umgibt eine Aura des Authentischen, das dem Digitalisat oder der Edition abgeht. Als unmittelbare Zeugnisse der Vergangenheit stellen sie einen Motivationsfaktor für die Arbeit des Historikers dar, der nicht zu unterschätzen ist.

In der Abschlussdiskussion fand dieser letzte Punkt breite Zustimmung. Dem Reiz des Archivs haftet etwas durchaus Romantisches an. Umso stärker beklagte man das schlechte Image, das Archive in der Öffentlichkeit haben. Archivarbeit, das forderten insbesondere die studentischen Teilnehmer, muss früher und regelmäßiger in das Geschichtsstudium integriert werden. Die gerne beklagten Verständnishürden werden erfahrungsgemäß nur anfänglich für unüberwindbar gehalten. Historische Quellen lesen und verstehen zu lernen, dafür braucht es Zeit und Ruhe. Wenn sich das Studium wieder verstärkt den Hilfswissenschaften zuwendete, steigerte sich über den Weg der Lehrerausbildung auch die Bedeutung der Archivarbeit für die Schule. Die Studenten der Zukunft, für die der Besuch eines Archivs schon als Schüler eine Selbstverständlichkeit war, werden sich an der Universität umso eher auf die Arbeit mit Archivalien einlassen.

Münster, März 2016    

Jonas Stephan

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