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Les Yeux et la mémoire
Einführung
Gliederung
Die einzelnen Gesänge
Zitate
Neuere französische Ausgabe
Schallplattenaufnahme
Bibliographie
Meinungen und Urteile der Kritik

Les Yeux et la mémoire

Poème

(1954)


Einführung

Les Yeux et la mémoire ist ein aus 15 Gesängen bestehendes "poème", das Aragon nach eigener Angabe vom 15. November 1953 bis zum 26. Juli 1954 verfaßte. Das Werk erschien am 19. Oktober 1954 bei Gallimard. Fast gleichzeitig kamen drei weitere Werke Aragons in den Buchhandel: 21.10.1954: La Lumière de Stendhal (Sammlung von Artikeln); 28.10.1954: Journal d'une poésie nationale (Sammlung von Artikeln Aragons und Gedichten junger französischer Autoren); 4. Quartal 1954: Mes caravanes (Gedichtsammlung).

Les Yeux et la mémoire, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges geschrieben, verbindet politische und ideologische Texte, die in parteiischer Sicht auf aktuelle Ereignisse Bezug nehmen, mit Passagen, in denen sich das dichterische Ich persönlichen Bekenntnissen und lyrischen Beschreibungen hingibt. Das poème ist so in erster Linie ein Dokument der Weltsicht und Selbstdarstellung Aragons zu einem Zeitpunkt, der auf die Krise folgt, die durch die Affäre um die Veröffentlichung des Stalin-Bildes von Picasso im März 1953 bei ihm hervorgerufen worden war. Neben hoch poetischen Passagen enthält das Werk Abschnitte, die zu den am stärksten zeit- und ideologiebedingten gehören, die Aragon in Gedichtform geschrieben hat und die heute nur mit Kopfschütteln gelesen werden können.

Nach Aragons eigenen Anmerkungen zu dem poème wurde Les Yeux et la mémoire als Reaktion auf Elsa Triolets Roman Le Cheval roux,ou les intentions humaines konzipiert, der im Oktober 1953 erschienen war. In diesem Roman geht es um die Bedrohung des Lebens durch die Atombombe und den Überlebenswillen des Menschen. Das poème ist nach Aragons Aussage "der Ausdruck der Gefühle, die aus der Lektüre von Le Cheval roux entstanden sind". Aragon präzisiert: "Von diesem Weltende, d.h. von der Auslöschung des Lebens auf dem Erdball, geht wie von einer Hypothese der Roman aus, und das poème bildet gleichsam den Kontrapunkt zum Roman."

Vor allem in den Passagen autobiographischen und bekennerischen Charakters nimmt Les Yeux et la mémoire gewisse Themen und persönliche Stellungnahmen vorweg, die Aragon zwei Jahre später in Le Roman inachevé ausführlich entwickeln wird. Das der Zukunft wird er vier Jahre später in La Semaine sainte und 1963 in Le Fou d'Elsa wieder aufgreifen; das Thema des Liebespaares als Modell einer künftigen Gesellschaft wird sich ebenfalls in Le Fou d'Elsa wiederfinden. Insofern hat das poème Les Yeux et la mémoire den Charakter eines Übergangswerkes, das noch den "alten", stark ideologisch gebundenen Aragon dokumentiert, aber schon auf den "neuen", anti-dogmatischen Aragon verweist, der energisch seine eigenen ästhetischen Überzeugungen verteidigt.

In seiner Präsentation der Schallplattenaufnahme von 1954 schrieb Aragon (in der dritten Person): "Gewöhnlich wenig zu Vertraulichkeiten geneigt, hatte er [der Autor] vielleicht niemals so viel Geständnisse in seine Dichtung hineingelassen wie in diesem langen poème [ca. 3000 Verse], dem längsten, das er jemals [...] absichtlich in der ersten Person geschrieben hat. Und dessen Ausgangspunkt im Leben des Autors von Les Yeux d'Elsa eine Träumerei über ein Buch Elsa Triolets ist, Le Cheval roux, ein Ende 1953 erschienener Roman, in dem das Überleben des Menschen in Zweifel gezogen wird und gleichzeitig die Hoffnung, die Möglichkeit menschlicher Unsterblichkeit oder zumindest eines auf Glück und Frieden zugeschnittenen langen Lebens aufleuchtet"

Gliederung

Das poème ist in 15 Gesänge gegliedert, auf die ein fast fünfzigseitiger Anmerkungsteil folgt. Mehrere Gesänge sind in Abschnitte unterteilt, die typographisch durch ein Sternchen voneinander getrennt sind.

  1. "Il n'y aura pas de jugement dernier"
  2. "Que la vie en vaut la peine" (Zitat)
  3. "Les vêpres interrompues" (Zitat)
  4. "Je plaide pour les rues et les bois d'aujourd'hui" (Zitat)
  5. "Nocturne des frères divisés" (Zitat)
  6. "L'enfer" (Zitat)
  7. "Le peuple" (Zitat)
  8. "On vient de loin" (Zitat)
  9. "Comment l'eau devint claire" (Zitat)
  10. "Sacre de l'avenir" (Zitat)
  11. "Le 19 juin 1954"
  12. "L'enfant"
  13. "L'ombre et le mulet"
  14. "Pareils à ceux qui s'aiment" (Zitat)
  15. "Chant de la paix" (Zitat)
Notes

Die einzelnen Gesänge

Gesang I besteht aus 12 Strophen, die sich aus jeweils 7 Achtsilbnern zusammensetzen. Jeder dieser 12 Strophen geht ein Distichon (ebenfalls ins Achtsilbnern) in Kursivdruck voraus, Das erste formuliert die Absicht des Dichters, dem Roman Elsa Triolets eine Antwort zu geben:

"Meine Liebe am Ende der Welt
Ah möge wenigstens meine Stimme dir antworten
"

Die 12 Strophen dieses ersten Gesangs versuchen, mit einer Reihe von Bildern die Welt nach der Atomkatastrophe zu beschreiben, die vor allem als eine Welt ohne Zukunft gesehen wird. Der Dichter beruft sich ausdrücklich auf Photos von Hiroshima, trotzdem wirkt seine Bildersprache - nach meinem Empfinden - seltsam harmlos, konstruiert, "literarisch".

Gesang II setzt sich aus 14 in Alexandrinern verfaßten Vierzeilern zusammen. Zwei Themen werden behandelt: das Bewußtsein des Individuums, in den nach ihm kommenden "Anderen" weiterzuleben, so daß Angst vor dem Tode unbegründet ist (erstes Aufklingen des Themas der Zukunft), und die emphatische Versicherung des Dichters, daß das Leben trotz alles Abscheulichen, das der Mensch erfahren muß, schön ist, so daß es sich zu leben lohnt.

Besonders interessant ist der zweite Teil des Gesangs: die Aufzählung der Übel, die der Mensch über sich ergehen lassen muß, gibt in den aufgezählten Details einen Einblick in die psychischen Verfolgungen, denen Aragon selbst seitens seiner Gegner, vor allem seiner Gegner aus den eigenen politischen Reihen ausgesetzt ist.

Gesang II gehört - nach meinem Empfinden - zu den packenden und rührenden Teilen des Buches. Es ist ein Anthologiestück, das vieles über die Innenwelt des Dichters aussagt.

Gesang III umfaßt 38 Vierzeiler, jeder bestehend aus drei Alexandrinern und einem Achtsilbner. Zwischen die 9. und 10. Strophe ist - in deutscher Sprache - eine Strophe aus einem Gedicht des deutschen Dichters Detlev von Liliencron (1844-1909) eingefügt. Der Gesang evoziert einige Ereignisse aus Aragons Leben vom Ersten Weltkrieg über die Begegnung mit Elsa Triolet (1928) bis zum Zweiten Weltkrieg, zur Wiederversöhnung mit Paul Éluard (1943), zur Befreiung. Ziemlich unvermittelt geht Aragon zu einer ausführlichen Schilderung der Abendstimmung über. Sie dient ihm als Ausgangspunkt für eine Verteidigung des Rechts auf künstlerische Landschaftsschilderung gegen marxistische Dogmatiker, die nur die Darstellung der Geschichte und der Arbeiterkämpfe gestatten wollen. Dieser Teil des Gesangs zeigt die Borniertheit der kommunistischen Dogmatiker jener Jahre und Aragons Aufbegehren gegen derartige dem Dichter auferlegte Restriktionen.

Gesang IV, der mit seinem Titel an den Titel von Victor Hugos Gedichtsammlung Chansons des rues et des bois anspielt, setzt sich aus zwei Abschnitten zusammen.

Abschnitt 1 16 Vierzeiler (3 Alexandriner + 1 Achtsilbner) plus 1 Alexandriner
Abschnitt 2 17 Vierzeiler: es alterniert jeweils eine nur aus Alexandrinern bestehende Strophe mit einer aus 3 Alexandrinern und 1 Achtsilbner bestehenden Strophe

Abschnitt 1: Der Dichter setzt sein Plädoyer für das Recht, die Landschaft lieben und poetisch besingen zu dürfen, fort. Er plädiert auch für das Recht, nach der Methode des "als ob" eine heile Welt darstellen zu dürfen.

Abschnitt 2. Der Dichter wendet sich gegen den Vorwurf des Exotismus, vor allem aber gegen den Vorwurf, in seiner Landschaftsschilderung fehle der Mensch, und erst recht das "Proletariat". Humorvoll weist Aragon seine Kritiker darauf hin, daß die von ihm skizzierte exotische Landschaft in der UdSSR liegt (was sie in den Augen der Dogmatiker alles rechtfertigt) und daß man sich ja menschliche Gestalten und menschliche Tätigkeiten nur hinzuzudenken braucht.

Gesang V besteht aus 29 Vierzeilern, die wie die Strophen des zweiten Abschnitts von Gesang IV konstruiert sind. Der Gesang beginnt mit der Bewunderung des nächtlichen Sternenhimmels. Der Dichter sieht Parallelen zwischen dem Sternenhimmel und der menschlichen Geschichte. Er gleitet über zu einer Debatte mit denen, die er seine "geteilten Brüder" nennt und unter denen vermutlich nicht-kommunistische linke Intellektuelle zu verstehen sind. Er greift einige ihrer Vorwürfe gegen ihn auf ("Ritter von der traurigen Gestalt", "Déroulède des Glücks", "Clown der uns etwas von Fortschritt erzählt"), betont aber die Gemeinsamkeiten, die zwischen ihnen und ihm bestehen, minimisiert die Unterschiede und träumt von einer zukünftigen Einheit. In der Finsternis von Welt und Himmel bedarf es nach Meinung des Dichters allerdings einer führenden Hand: "Wie eine Partei ein Volk in der Geschichte führt".

Gesang VI besteht aus 20 in Alexandrinern verfaßten Vierzeilern. Der Dichter findet, daß genug vom Himmel gesprochen wurde. Mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs "Himmel" ('Firmament', 'religiöser Himmel') spielend, bringt er seine Überzeugung von der Leere des "Himmels" zum Ausdruck und widersetzt sich jenen, die ihre Hoffnung in die Existenz von "Göttern" setzen. Er glaubt jedoch an die Existenz der "Hölle": sie ist für ihn "das schreckliche Heute", d. h. die Lebensbedingung der meisten Menschen. Er spricht sich gegen die Flucht in ein exotisches Refugium aus und erklärt sich bereit, die "Hölle"mit den Betroffenen zu teilen.

Gesang VII besteht aus 27 in Alexandrinern verfaßten Vierzeilern. Der Dichter stellt Betrachtungen über "das Volk" an. Unter "Volk" wird praktisch die Arbeiterschaft verstanden. Das "Volk" mag nach außen hin resigniert wirken, aber in Wirklichkeit rumort es in den Köpfen der Menschen. Der Dichter versucht, die Arbeitswelt mit Beispielen zu beschreiben. Die Verwendung einer christlichen Terminologie dient der Mystifizierung des "Volkes". Ihm gehört die Zukunft. Allerdings braucht es eine (von ihm gewählte) )Führung ("Wähle Volk wähle diejenigen die dich führen werden"), und diese Führung übernimmt die Partei, so daß die "Eroberer" der Zukunft, die Werktätigen, von "Meiner Partei" sprechen können.

Gesang VII gehört zu den Texten von Les Yeux et la mémoire, in denen sich Aragon bemüht, eine marxistische Gesinnung zu demonstrieren und ein Beispiel für Sozialistischen Realismus in der Poesie zu liefern. Das Ergebnis ist nicht sehr überzeugend.

Gesang VIII besteht aus 25 in Alexandrinern verfaßten Vierzeilern. Zum ersten Male seit seinem Bruch mit den Surrealisten (1932) evoziert Aragon öffentlich mit Sympathie seine surrealistische Jugend. Diese Strophen des Gesangs gehören nach meiner Einschätzung zu den ergreifendsten des Buches. Der Gesang endet mit der Erinnerung an seinen ersten, jedoch gescheiterten Versuch, der Kommunistischen Partei beizutreten (1920).

Gesang IX ist mit 71 Vierzeilern das längste des gesamten poème. Die ersten 18 Strophen bestehen nur aus Alexandrinern, alle weiteren aus jeweils drei Alexandrinern und einem Achtsilbner.

Aragon schildert seinen Weg zum Kommunismus, indem er ihn in eine größere Perspektive stellt. Er reiht seine eigene politische Entwicklung in die einer Vielzahl von Menschen ein, die, den verschiedensten Horizonten entstammend, vom Kommunismus mit der Kraft einer Naturgewalt bzw. mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes angezogen werden wie Ströme vom Meer. Es folgen Strophen, die die Funktion und Rolle der Partei beschreiben und für Aragons damalige ideologische Position außerordentlich aussagekräftig sind. Dieser Teil des Gesangs geht in Stellungnahmen zu aktuellen politischen Problemen über und in dieWiedergabe der Parteimeinung zu diesen Fragen. Der Gesang endet mit einem sich über sechs Strophen erstreckenden Gruß an die Partei, die in dem Bekenntnis des Dichters gipfelt, die Partei sei "meine neue Familie" und - erstaunlicherweise - "von nun an mein Vater". Dieses Gesangsende kann in Beziehung gesetzt werden zu dem Gedicht "Du poète à son parti" de 1944 (La Diane française): diese beiden Texte sind jene, in denen Aragon am deutlichsten die Gefühlsbande zum Ausdruck bringt, die ihn mit der Kommunistischen Partei Frankreichs verbinden.

Gesang X weist einen anderen Aufbau auf als die bisherigen Gesänge. Er ist in fünf Abschnitte unterschiedlicher Länge und Strophenform gegliedert.

Abschnitt 1 16 Vierzeiler, jeweils bestehend aus drei Alexandrinern und einem Achtsilbner, sowie einer 17. Strophe, nur aus Alexandrinern bestehend, wobei der vierte Vers vom Dritten durch eine Leerzeile getrennt ist
Abschnitt 2 10 Vierzeiler, aus Alexandrinern bestehend
Abschnitt 3 16 Vierzeiler (3 Alexandriner + 1 Achtsilbner) plus 1 Vierzeiler in Alexandrinern
Abschnitt 4 22 Zweizeiler
Abschnitt 5 9 Strophen, bestehend aus 6 Alexandrinern und einem Achtsilbner

Abschnitt 1. Der Dichter diskutiert mit sich selbst und seinen eventuellen Kritikern über Sinn und Berechtigung, in so berauschter Rhetorik die Partei zu besingen. Sein Ziel wäre es, für den "neuen Gesang" den Vers Paul Claudels zur Verfügung zu haben. Er plädiert dafür, zum Besingen der (kommunistischen) Hoffnung und der Märtyrer der Nation auf eine aus dem Christentum stammende Terminologie und Metaphorik zurückzugreifen. Dieser Abschnitt ist von grundsätzlicher Bedeutung für Aragons Poetik.

Abschnitt 2. Elsa träumt. Der Dichter beobachtet, wie Elsa geistesabwesend ist, während sie ihrer Hausarbeit nachgeht. Der Grund: sie schreibt gerade ihren Roman Le Cheval rous und träumt von der Zukunft.

Abschnitt 3. Aspekte und Möglichkeiten der Zukunft.

Abschnitt 4. Der Dichter stellt sich seine eigene Zukunft vor, d.h. sein baldiges Totsein; er zählt auf, was er dann alles nicht mehr wird tun können, auch für Elsa nicht. Ein Trost bleibt: Der Tod bringt vollkommenes Vergessen, vollkommenes Unbewußtsein; folglich wird es kein Bedauern über das geben, was nicht mehr möglich ist. Dieser sehr persönlich gehaltene, von Melancholie geprägte Abschnitt des 10. Gesangs ist einer der poetischen Höhepunkte des poème Les Yeux et la mémoire.

Abschnitt 5. Im Gegensatz zu dem vorher Gesagten plädiert der Dichter gegen das Verweilen bei diesen melancholischen Gedanken und verwirft Weltschmerz und Todesfurcht. Er betont die Natürlichkeit des Sterbens mit Verweisen auf das "Reifen und Sterben" in der Natur. Er hebt Unterschiede zwischen dem Tier, das weint, und dem Menschen, der lacht, hervor und vertritt die Meinung, daß derjenige nicht stirbt, der sich "dem großen Traum aller" anschließt und sich in den Dienst der "neuen Menschheit" stellt.

Gesang XI setzt sich aus drei Abschnitten zusammen..

Abschnitt 1 34 Distichen, Alexandriner
Abschnitt 2 7 Sechszeiler, aus Achtsilbnern bestehend
Abschnitt 3 7 Vierzeiler (3 Alexandriner + 1 Achtsilber) plus 1 Distichon in Alexandrinern plus 2 Einzelverse (Alexandriner)

Der Titel des Gesangs nennt den Tag, an dem mittelamerikanische Länder mit Unterstützung der USA das Guatemala des Präsidenten Jacobo Arbenz angriffen.1

Abschnitt 1. Der Dichter befindet sich in Amélie-les-Bains in den Pyrenäen in einer Ferienatmosphäre. Beschreibung der ihn umgebenden Natur. Erinnerung an den spanischen Anarchisten Francisco Ferrer (1859-1909), der hier mit seiner Gefährtin Soledad gewohnt hat, bevor er in Barcelona verhaftet und erschossen wurde. Der Dichter evoziert das nahe Katalonien, das nahe Spanien, und speziell Federico García Lorca (1899-1936), der vor 18 Jahren erschossen wurde. Spaniens Schicksal diente Frankreich als Warnung und als negatives Beispiel. Jetzt ist Spanien eine Gefangene, zu der der Dichter, dem der Zutritt untersagt ist, wie durch ein Gitter spricht.

Abschnitt 2. Der Dichter erfährt aus dem Radio die Nachricht vom militärischen Überfall auf Guatemala. In der ländlichen, friedlichen Atmosphäre reagiert er zunächst mit dem Wunsch, von den Ereignissen nicht gestört zu werden une eine gewisse Gleichgültigkeit beibehalten zu können.

Abschnitt 3. Der Dichter kann jedoch von den Ereignissen in Guatemala nicht unberührt bleiben. So gibt er seine Interpretation des Geschehens und der Machenschaften, die seiner Meinung nach den Hintergrund bilden. Die Darstellung ist geprägt von der Ideologie des Kalten Krieges.

Gesang XII besteht aus 29 Fünfzeilern (nur Alexandriner).

Der Gesang geht von der Nachricht aus, daß beim ersten Luftangriff auf Guatemala-City auch ein Kind getötet wurde. Der Dichter meditiert über die Möglichkeiten, die grundsätzlich in einem Kinde angelegt sind und also mit der Tötung eines Kindes vernichtet werden. Er sieht im Kind als solchem die Zukunft, auch seine eigene. Er reflektiert über das Thema Kind, junger Mensch, Zukunft.

Gesang XIII setzt sich aus vier Abschnitten zusammen..

Abschnitt 1 8 Fünfzeiler, aus Alexandrinern bestehend
Abschnitt 2 11 Fünfzeiler, aus Alexandrinern bestehend
Abschnitt 3 34 Fünfzeiler, aus Alexandrinern bestehend
Abschnitt 4 15 Fünfzeiler, aus Alexandrinern bestehend, plus einem Einzeiler (Alexandriner)

Das lyrische Ich teilt sich in zwei Hypostatsen, den "Schatten" und das "Maultier", die miteinander eine Art Streitgespräch führen:

Abschnitt 1 besteht aus einer Rede, die der "Schatten" an das "Maultier" richtet. Der Schatten bewertet die Zukunftsbegeisterung des Dichters, wie sie im vorausgegangenen Gesang zum Ausdruck kam, voller Skepsis. Er vergleicht sie mit den Feuern der Johannisnacht, die schon am nächsten Morgen verglüht sind. Der angeredete Dichter ist das Maultier, das am Johannistag gesegnet, geschmückt und geehrt wird (und das sich deshalb Illusionen über seine Zukunft macht), das aber am darauffolgenden Tag wieder der übliche Lastträger ist. Der Dichter ist das Maultier auch wegen der Hartnäckigkeit, mit der er an die Zukunft glaubt. Die Anspielungen auf Bräuche im Roussillon ("deine katalanische Kulisse") erklären sich durch Aragons tatsächliche Anwesenheit in dieser Region, eben in Amélie-les-Bains und Umgebung.

Abschnitt 2 ist die Antwort des "Maultiers" auf die Rede des Schatten. Das lyrische Ich bekennt sich zu seiner Maultierrolle und läßt sich nicht vom Besingen der Zukunft abhalten. Es will diese nicht im Lichte des Verfalls und des Untergangs, im Zeichen des "Grabes" und der "Nacht"sehen, sondern als "Entdeckung" und "am Ende bestätigte blaue Hypothese". Das "Maultier" plädiert für eine gewisse Nüchternheit beim Besingen der Zukunft; es will nicht auf den sprachlichen Zauber der großen französischen Dichtung der Vergangenheit zurückgreifen.

Abschnitt 3 enthält die Erwiderung des Schattens. Dieser protestiert gegen die neue ästhetische Linie des Maultiers, die er als blasphemisch betrachtet. Er verweist darauf, daß sich der Dichter früher (zur Zeit des Surrealismus) durchaus an der "sprachlichen Schönheit" seiner eigenen Sätze berauscht hat; es bestehe kein Anlaß, jetzt, da das Thema die Zukunft ist, "die Schönheit der Worte" zu verachten. Er empfiehlt dem Dichter, gerade auch "alle Worte der Vergangenheit" in seinem Gesang wieder aufleben zu lassen.

Es folgen skeptische Bemerkungen zur Zukunft: Sie wird die Träume des Dichters zerstören, sie wird seinen Gesang für neue Generationen unverständlich machen. Die jungen Menschen von heute haben kein Verständnis mehr für die Probleme ihrer Väter und Großväter. Es fehlen ihnen elementare Kenntnisse ("Um ein Haar verwechseln sie Byzanz mit Paris"). Während sich der Wandel vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts langsam vollzog, ist seitdem ein "Beschleunigungsprinzip" am Werk. Der "Schatten" führt dafür - mit einer gewissen Nostalgie - zahlreiche Belege an, Veränderungen, die seit Aragons eigener Jugend eingetreten sind. Die Strophen, die eine ganze Reihe von Einzelbeisopielen aufzählen, verbinden große stilistische Lebendigkeit mit einem einnehmenden Humor.

Der Mensch der Zukunft ist der große Unbekannte, "für uns ein Fremder von Grund auf". Der Schatten rät schließlich dem Maultier, sich für die Vergangenheit zu entscheiden: ("Optiere für das Gewesene denn das Entstehende ignoriert dich") und sich dem Neuen entgegenzustellen.

Abschnitt 4 übernimmt wiederum das dualistische Weltbild des Kalten Krieges: auf der einen Seite die Befreiung Chinas durch die Truppen Maos und die Alphabetisierung eines Teiles Chinas, auf der anderen Seite "Pest" und "Bombe", Malthus und Burnham. Dieser Abschnitt gehört auch poetisch zu den schwächsten des ganzen Werkes.

Gesang XIV setzt sich aus zwei Abschnitten zusammen..

Abschnitt 1 12 Strophen, bestehend aus jeweils 4 Zehnsilbnern, 1 Alexandriner und 1 Achtsilbner
Abschnitt 2 36 Strophen und ein Distichon. Die Strophen sind abwechselnd Sechszeiler (aus Alexandrinern bestehend) und Achtzeiler (5 Alexandriner, 1 Zweisilbner, 2 Achtsilbner)

Abschnitt 1: Der Dichter begrüßt freudig das Ende des französischen Vietnam-Krieges (21.07.1954). Er ersetzt Vergils Worte "Arma virumque cano", mit denen er sein zur Zeit der deutschen Besatzung verfaßtes Vorwort zu Les Yeux d'Elsa (1942) betitelt hatte, durch den Vers "Ich besinge den Menschen und seine friedlichen Ziele". Er entwirft ein utopisch-positives Bild des Menschen der Zukunft, der aus dem Opfer der während der Besatzungsjahre erschossenen Patrioten und aus den Leistungen der großen Naturwissenschaftler und der großen Dichter der Weltliteratur hervorgehen wird. Das, was den Menschen am größten macht, ist jedoch die gegenseitige Liebe von Mann und Frau. Der Dichter preist die künftigen Menschen glücklich, die Liebenden gleichen werden.

Abschnitt 2: Der Dichter schildert zunächst "die Liebe von einst". Mit Saint-Just kommt die Idee des Glücks in die öffentliche Debatte, wird aber noch nicht Realität. Der Dichter zeigt an zahlreichen historischen Beispielen das Scheitern der "romantischen Liebesbeziehungen". Demgegenüber entwirft er das Bild einer zukünftigen Paarliebe, die auf völliger Gleichheit der Geschlechter, auf denselben geschichtlichen Erfahrungen und auf völliger geistiger Gemeinsamkeit beruht. Das sich liebende Paar soll das Modell der Gesellschaft der Zukunft bilden. Hier finden sich zum ersten Male bei Aragon explizit formuliert die Ideen, die er neun Jahre später in Le Fou d'Elsa in poetischerer Form weiter entwickeln wird. Er hebt schließlich die Rolle der Frauen im Zweiten Weltkrieg hervor sowie ihre Bedeutung in Gegenwart und Zukunft.

Gesang XV setzt sich aus drei Abschnitten zusammen..

Abschnitt 1 18 Vierzeiler in Alexandrinern
Abschnitt 2 27 Vierzeiler, jeweils bestehend aus 3 Achtsilbnern und einem Viersilbner
Abschnitt 3 8 Neunzeiler in Alexandrinern

Abschnitt 1. In Vietnam herrscht Friede, und der Dichter freut sich darüber. Aber er hätte sich gewünscht, daß der Geist des Weltfriedenskongresses von Wien (Dezember 1952) dem Krieg zwischen Franzosen und Vietnamesen schon eher ein Ende gesetzt hätte. Dies hätte beiden Völkern zahlreiche Opfer erspart. Dieser geopferten Jugend gedenkt der Dichter. Er erinnert an das Alltagsglück, das den Gefallenen für immer versagt bleiben wird. Der Abschnitt endet mit einem Zwiegespräch zwischen einem toten Soldaten und dem Dichter, der ihn zu trösten versucht.

Abschnitt 2 ist ein Loblied auf den Frieden und seine positiven Folgen; allerdings bleibt auch das Wissen, daß es immer wieder zu Kriegen kommt. Gleichsam um diese Gefahr zu bannen, verleiht der Dichter diesen Strophen die Eindringlichkeit von Litaneien, wozu besonders Aufzählungen und Anaphern beitragen. Acht Strophen beginnen mit "Ich sage Frieden" und vier Strophen mit "Es ist Friede". Der Abschnitt endet mit dem Losungswort: "Feuer einstellen.

Abschnitt 3 greift dieses Losungswort wieder auf und entwickelt es in aller Breite, indem die unterschiedlichsten Objekte und Bereiche aufgezählt werden, auf die nicht mehr "geschossen" werden soll, im wörtlichen und im übertragenen Sinne, d.h. Objekte und Bereiche, die nicht mehr "bekämpft" werden sollen, wie z.B. die Liebe und die Kunstwerke des Bildhauers, des Maler, des Dichters. Er verlangt die Freiheit der Wissenschaft. Alles ist dem Menschen erlaubt, mit einer Ausnahme: "Der Mensch hat jede Freiheit außer gegen den Menschen".2 Der Dichter fordert schließlich eine friedliche Koexistenz, einen friedlichen Wettstreit zwischen zwei "Chancen", der "menschlichen und der göttlichen": "Die Wette Pascals und die Kenins".


Anmerkungen

1 "1954 wurde die progressistische Regierung des Obersten Arbenz, der eine die nordamerikanischen Interessen verletzende Bodenreform vorgenommen hatte, mit Hilfe der CIA gestürzt." (Le Petit Robert. Dictionnaire universel des noms propres). Die Offensive wurde vom Obersten Armas geführt, der die Interessen der amerikanischen Gesellschaft United Fruit verteidigte. Siehe Constructing Enemies: The Illusion of Communism and U.S. Intervention in Guatemala 1944-1954, Howard Zinn: A People's History of the United States covering the period 1945-1960. New York: Harper & Row Publishers, 1980, CIA involved in Guatemala coup, 1954 . Präsident Bill Clinton wird sich 45 Jahre später - im März 1999 - im Namen der USA für diese Aggression offiziell entschuldigen. Zahlreiche Webseiten dokumentieren diese Äußerungen Clintons, z.B. http://www.theage.com.au/daily/990312/news/news24.html, http://www.washingtonpost.com/wp-srv/inatl/daily/march99/clinton11.htm, http://www.spokane.net/stories/1999/Mar/11/S543310.asp http://abcnews.go.com/sections/world/DailyNews/guatemala990311.html http://quote.yahoo.de/schlagzeilen/110399/politik/921133966-1141735538.html http://www.mojones.com/scoop/scoop10.html http://headlines.yahoo.com/Full_Coverage/World/Guatemala/ http://www.fas.org/irp/news/1999/03/990311-guat2.htm http://www.sunsentinel.com/news/daily/detail/0,1136,11000000000052143,00.html http://www.webcom.com/hrin/magazine/jan97/guatemal.html

2Anspielung an Maurice Barrès: "Alles ist erlaubt, nur nichts gegen die Liebe".

Zitate

Neuere französische Ausgaben

  • Aragon: Les Yeux et la mémoire, L'OEuvre poétique, 2eéd., tome V, livre XII. Paris: Messidor/Livre Club Diderot, 1990, pp. 223-346

Schallplattenaufnahme

  • Les Yeux et la mémoire (fragments). Poème lu par Aragon. Die Aufnahme fand am 12. Oktober 1954 in den Studios von Pathé Marconi statt. Die Langspielplatte erschien bei "La Voix de son maître", FELP 109. Die Neuausgabe erschien in beschränkter Auflage für die Mitglieder der Société des Amis de Louis Aragon et Elsa Triolet (SALAET CD-98-1). Der CD liegt eine Präsentation von Francis Crémieux bei.

Bibliographie

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Letzte Änderung:
Dernière mise à jour:
14.11.1999
Verfasser - Auteur: Wolfgang Babilas
E-mail: babilas@uni-muenster.de

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